Horizont

Das Telefon klingelte.

Mein Rehabegleiter teilte mir mit, es finde in diesem Moment eine Hausversammlung statt. Alle Mitarbeiter und Rehabilitanden befänden sich ab sofort in Quarantäne. Wo ich mich denn gerade aufhalte?

Genau hier…

…war es, als mich am Mittwoch, den 25. März um 16:58 Uhr dieser Anruf erreichte.

Der „Tuniberg“ ist – wie nennt man das – ein „Hubbel“ fällt mir ein… 🙂 –

aber nein, so nennt man das sicher nicht. Wikipedia sagt, es sei eine „Kalksteinerhebung“ zwischen Freiburg und Kaiserstuhl. Es wird vorrangig Wein dort angebaut und ich erinnere mich gerne an die gefühlt viel zu wenigen Stunden, die ich letzten Herbst mit meiner Holz-Ergotherapiegruppe hier grauburgunderweintraubenerntend verbracht habe.

Die Lage von Haus Landwasser erlaubt uns keinen Blick in die Weite,

so nahm ich Abschied in aller Fülle. Erlaubte mir, die Radtour bis weit nach dem Sonnenuntergang auszudehnen. Genähert habe ich mich währenddessen nur der Rückkehr und somit der Zeit in die mulmig fad bitterschmeckende Ungewissheit, die sich einer bestimmten Bedrohlichkeit nicht entziehen kann.

Nicht nur eine Zeit ohne eine Fluchtmöglichkeit in räumliche Entfernung.

Fehlen wird mir der beruhigende Blick in den Horizont.

Schmerzlos schöne Verbundenheit von Weite und Halt.

Angebot zum Kurzurlaub, möglicherweise einer Reise

von einem Punkt in einen Raum.

 

Etwas

Nach diesem Tag. Am Ende dieses Tages gestern, an dem es so viel von diesem kindlichen Gefühl der diffusen Bedrohung bis hin zum Ausgeliefertsein für mein Nervensystem zu erleben gab – und so viele völlig unerwartete wie wirkungsvolle Glückstrosthoffnungsrettungsgefühlsternschnuppen – saß ich.

Ich saß dort am Aufgang zur Messe Freiburg.

Ich hatte Äpfel bekommen, mein Lieblingsknäckebrot und noch ein paar Zutaten für das heutige Backen mit J.

Ich mag diesen Platz mit dem Blick in die Weite. Der Flugplatz verschafft noch ein bisschen Raum vor all den Baustellen. Links ruht der Schwarzwald. Dort die Gipfel der Vogesen. Bis vor kurzem waren sie noch schneebedeckt…

Und am Himmel spielten sich Sonnenuntergangsfarben sanft in die Nacht.

Nach diesem Tag fand ich dort Weite und Ruhe. Ich saß auf den steinernen Treppen. Ein paar Menschen waren da, aber angenehm weit weg um mich alleine fühlen und trotzdem ungestört sein zu können.

Kein Gedanke ans Atmen. Dabei langsam die Ruhe wahrnehmen, ja vielleicht sogar spüren, diese Ruhe, die da ist. Immer da ist.

Weite. Sanfter, ruhiger Lärm einer entfernten Stadt. Silhouetten von Gebäuden. Auf der Straße dort fuhren einspurig Fahrzeuge von rechts nach links. Ich glaube, ich dachte an nichts. Mein Verstand war eingelullt für einen Moment von ebendiesem.

Bis sich dieses große, rote Etwas in die Wahrnehmung drängte.


Etwas

drängte sich sich auf, zerschnitt den Moment…

Gefühle erklafften den dort entstandenen Raum,

Gedanken wie eine Garde gierig-eifriger Honorarsoldaten im Gefolge.

Die Waffen dieser Soldaten sind Urteile

Sie schneiden scharfe Krater ins Jetzt.


…und verschwand. Das Etwas verschwand. Es ver- zog sich aus dem Blickfeld. Langsam. Ganz langsam. Von rechts nach links.

„Es ist immer alles da“.

Auch wenn etwas den Verstand oder das Gefühl berauscht, verführt, entführt, einnimmt, besetzt, völlig beherrscht, zermartert,…

Es ist immer alles da. Der Boden, der Himmel, die Welt bleibt, wie sie ist.

Auch das Etwas existiert immer. Ich nehme es manchmal nur nicht wahr.

Etwas mag hindurchziehen.

 


 

Wir wollen wieder diesen leckeren Orangengugelhupf backen und Apfel-Haferflocken-Cookies…

Und wie gerne lasse ich mich schon jetzt vom Geruch, der doch auch nur in meiner Erinnerung, in meiner Sehnsucht existiert, verführen.

Bis dort an den gedeckten Tisch.

Mit

Was auch immer Etwas ist.

Es ist immer alles da.

satt

Eine schöne, rundrum wohltuende Radtour war es, hin nach Tiengen, zu einem Ort, an dem ich noch niemals zuvor war.

Mein Rucksack und mein Fahrradkorb waren, im Gegensatz zur Hinfahrt, auf dem Rückweg gut gefüllt – und tatsächlich – mit allem Respekt, der mir zur Verfügung steht – kam mir der Vergleich mit Hamsterfahrten nach dem 2. Weltkrieg.

Meine Mehlvorräte wurden knapp. Und weil mir das Backen so viel Freude macht und zudem hier so willkommen ist, war ich von ständig leeren Regalen zunehmend genervt. Ein Mitrehabilitand brachte mich auf die Idee zu googeln, denn er haben von einer Mühle gehört…: „In Tiengen – oder so?“

Ich rief gar nicht erst an um nach den Vorräten zu fragen, ich machte mich einfach auf den Weg zur „Jenne Mühle“.  (kleine Anmerkung: Erste urkundliche Erwähnung 1357!)

Und es war nicht einfach nur die Freude über das Mehl, die schöne Tour, die ich fast selbständig fand, das Wahrnehmen des Wiederauflebens der Natur, der blaue Himmel, kreisende Störche, freundlich grüßende Menschen… das Gefühl „draußen“ zu sein… es war, alles zusammen genommen, glaube ich, bewusst erlebte…

„Selbstwirksamkeit“

Heißt: Ich habe (mindestens) ein Bedürfnis und ich stille es.

Ich mach‘ mich satt. Und nicht nur das… Es fühlt sich auch noch rundrum gut dabei an.

 

Ayvar

Es war kurz vor Ladenschluss.

Von vier noch vorhandenen Gläsern Ayvar nahm ich zwei.

Wirklich gebraucht habe ich – natürlich – keines. Wer braucht schon Ayvar?

Gewollt habe ich welche.

Bin ich deshalb ein Gutmensch, weil ich mich als Schlechtmensch ertappt habe?

Wohin führt diese Frage?

Noch immer in den Dreck.

Sie könnte ins Jetzt führen.

Kasperltheater

Ich habe das Gefühl mich entschuldigen zu müssen.

Dafür möchte ich um Verzeihung bitten.

Denn Schuld setzt eine Verletzung voraus.

Kein Mensch hat mir was von einer durch mich verursachten Verletzung gesagt.

Dass ich trotzdem das Gefühl habe, mich entschuldigen zu müssen, heißt, ich misstraue.

Das macht mich traurig.

Und es berechtigt mein Gefühl der Schuld.


Welches Bedürfnis steckt dahinter? Was kann ich gerade nicht für mich tun, wenn ich mir und der Welt nicht die Ruhe lassen kann?

Mitgefühlschmarotzerei? Zuwendungsmanipulation? Erwecken der Wut als Stabilisator und Schmerzdämpfer? Hass als Ventil? Spürbarer Ekel als Zeuge der Anklage, als „amtliche Beglaubigung“?


Na, ihr meine Schatten, seid ihr alle da?

Gut. Dann gehen wir alle wieder schlafen. Schlaft gut und sicher. Ich tu Euch nichts. Ihr habt Berechtigung. Ihr seid aus kindlich naiver Notwendigkeit geformt und ausgestaltet in Meisterjahren des Kopfwerks.

Jeder Eurer Hiebe sitzt.

Gewiss träumt ihr vom Ruhestand.


Und jetzt

Fast bin ich gelangweilt.

Verweile ich nicht dort.



Wer spielt hier wen?