Zweifel

Ich habe mich „aufgemacht“ im letzten Jahr.

Und ich habe mich zu spüren bekommen.

All diese Selbstzweifel, die Unruhe, das Gefühl der Haltlosigkeit, meine Einsamkeit. Das Gefühl, falsch zu sein. Und die tiefe Sehnsucht.

Ich lerne mich selbst wahrzunehmen und auszuhalten.

Und ich lerne es hoffentlich, darauf entsprechend zu reagieren und immer leichter Entscheidungen zu treffen, die sich richtig anfühlen.

Am letzten Montag habe ich meine Arbeitsstelle wieder angetreten. Im ganzen letzten Jahr habe ich nach dem Klinikaufenthalt und vor dem halbjährigen unbezahlten Urlaub kaum gearbeitet.

In meiner alten Strenge, mit mir selbst umzugehen, würde ich sagen, es war Gewohnheit, oder es mangelt mir an Durchhaltevermögen oder Willen. Heute halte ich die schlichte Notwendigkeit für möglich, die mich in den letzten Tagen in mein altes, zwanghaftes Essverhalten trieb.

Essen ist Trost und Belohnung für besondere Anstrengung. Aber was ist denn so anstrengend?

Es fühlt sich schlicht nicht mehr richtig für mich an, dort zu arbeiten. Und es macht mir Angst, dies als meine Wahrheit anzunehmen.

Aber ich kann nicht mit mir ins Reine kommen, wenn ich ständig damit beschäftigt bin, mich im Dreck zu wälzen.

Ich werde mich nie richtig fühlen, wenn ich das Gefühl habe, das Falsche zu tun. Am falschen Ort zu sein. Ich kann und will die Anforderungen dieses Arbeitsplatzes nicht mehr erfüllen. Ich habe mich aufgemacht und will mich nicht mehr zustopfen müssen, um in der Lage zu sein, dort zu arbeiten. Ich will den Preis nicht mehr zahlen, den es mich kostet, dort arbeiten zu können.

Warum habe ich den überhaupt all die Jahre gezahlt?

Ich sehe nun deutlicher, wie wichtig es für mich als Karin ist, einen Platz zu haben, an dem ich willkommen bin. Anerkannt und gesehen. Als Person irgendwie gewertschätzt und Teil einer Gruppe von Menschen. All dies glaubte ich in einem gewissen Maße in der Arbeit gefunden zu haben. Ausgeblendet habe ich die Details, vor denen ich nun nicht mehr meine Augen verschließen kann und will.

Es macht mir Angst, wie emotional unbeteiligt ich gedanklich diesen Hort der Sicherheit aufgebe. Wie viel ist mir die Sicherheit eines unbefristeten, im Pflegebereich gut bezahlten Arbeitsplatzes wert? Bringe ich mich um Hab und Gut und in Not? Ich erhoffe mir Genesung, mehr und mehr Heilsein fühlen zu können, indem ich nicht mehr so viel tue, was sich falsch anfühlt. Aber die Pessimisten in mir lachen sich gerade kaputt…. „Deine Wunden sitzen tiefer, meine Liebe, die heilen doch in diesem Leben nicht! Du machst Dir was vor! Planlos, ideenlos, haltlos wie Du bist!“

Ich werde wieder zur Arbeit gehen. Und hoffe darauf, noch deutlicher zu spüren, dass es so nicht weitergeht. Dass sich ein Weg auftut, der sich gut anfühlt. Und die Strecke dazwischen kleine Wunder birgt, mit denen ich jetzt noch gar nicht rechnen kann.

Karin, denk‘ an den PCT… keine Minute willst Du missen. Trotz des ganzen Schmerzes.

Gleichzeitig habe ich Angst davor, dass die alten Mechanismen des Verdrängens wieder greifen.

neue Kategorie „Altes würdigen“

 

Diese Notiz stammt aus einem Gespräch mit meinem Uffenheimer Therapeuten Hrn. B.

Ich habe mich ihrer erinnert und sie herausgesucht, nachdem ich den heutigen Beitrag „Musiklehrer“ geschrieben und mich danach so wehmütig und schwer gefühlt habe.

Wehmut und Schwere dürfen sein. Ich darf den Schmerz spüren und feststellen, wie sehr diese alten Verletzungen mich noch heute beeinträchtigen.

Sie gehören zu mir, beeinflussen mein Denken und Fühlen, mein Handeln und Planen.

Manchmal bekomme ich sie als so eine „alte Verletzung“ zu fassen, so wie im vorhergehenden Beitrag.

Aber ich darf und kann mir bewusst machen, dass es auch etwas anderes gibt:

Das Neue.

Hier steht klar die Angst im Vordergrund.

Und auch sie gilt es zu würdigen – aber mich nicht davon lähmen zu lassen.

Auch wenn die Vergangenheit vielleicht ganz voll ist von Schmerz und die Zukunft vielleicht ganz leer von Angst:

Sie ist noch nicht geschrieben.

Und es liegt an mir, wer den Griffel in der Hand hat.

 

Musiklehrer

Ich habe den Raum noch vor Augen. Im Erdgeschoss des damals modernen, offenen Schulgebäudes meiner Grundschule war die Aula zu einem kleineren Raum abtrennbar, in dem der Musikunterricht stattfand. Es gab ein Klavier und diese typischen, Stühle aus Pressholz mit klappbaren Schreibauflagen. Ich habe den Raum als hell in Erinnerung. Wir Kinder saßen in einem weiten Halbkreis, kaum drei Reihen hintereinander. Der Boden war bedeckt von diesen glattengeschliffenen, schwarz-weiß gemusterten Steinfliessen. Es war für mich immer mit einer kleinen Aufregung verbunden, in diesen so selten genutzten Raum gehen zu dürfen.

Wie hieß noch diese Lehrerin? Fr. M… ?

Versuche ich mir aus dem nebligen Erinnern ein Bild zu machen, steht das Klavier fast mittig im Raum und das Licht trifft die schlanke, nicht mehr junge Frau von seitlich links hinten. Sie trägt eine große, rundliche Brille mit beigem Plastikgestell. Ihre eher dünnen, blassbeigen, Haare dürfen ihren Kopf ein zärtlich wild wirkend umwirbeln. Ich glaube, sie hatte sie ein bisschen hochgesteckt. Stelle ich mir ihre Kleidung vor, habe tatsächlich vorsichtige Schlaghosen in Erinnerung. Oder einen glatten, wadenlangen, wollenen Rock in Naturfarben.

Es gab Lehrer, von denen wollte ich ganz besonders gemocht werden. Sie gehörte wohl eher nicht dazu.

Sie wirkte genervt und lustlos auf mich. Heute denke ich mir, wir grauenvoll es wohl auch gerade für musikalische Menschen sein muss, Grundschulkinder auch noch singend ertragen zu müssen.

Vielleicht mussten wir deshalb so oft „Peter und der Wolf“ anhören?

Aber ich habe das Singen noch sehr gut in Erinnerung. Wir krakehlten gemeinsam Volkslieder oder versuchten uns im Kanon. Manchmal bekamen Auserwählte – ich nicht – eine Rassel oder einen Schellenring und durften mit musizieren.

Ich kenne die damaligen Lehrpläne einer Grundschullehrerin im Fach Musik nicht. Meiner Meinung nach sollte damals wie heute das Entdecken und Erleben der Freude am gemeinsamen Musikmachen im Vordergrund gestanden haben bzw. stehen, unabhängig von der Qualität des Produktes. Aber die Ziele dieser Frau sahen wohl ganz anders aus, denn zwei ihrer Sätze sprechen Bände davon und haben sich so tief in die Knochen meines Gehirns gebohrt, dass ich bis heute meine Singstimme nicht hören mag und nur mit lauter Musikbegleitung überhaupt in die Welt lasse:

„Irgendetwas brummt hier…. Karin, sei mal ruhig. Ah, jetzt ist es besser.“

Auch wenn es lächerlich erscheint, die Tiefe dieser Verletzung geht weit über das damalige Verbot, mitsingen zu dürfen, hinaus.

Nicht nur mein Glaube, nicht schön singen zu können, ist seit diesem Moment felsenfest verankert. Ich störe die Harmonie meiner Mitmenschen, indem ich auch nur versuche, Teil zu sein. Und ich muss deshalb still sein.

Es war die Bestätigung dessen, was ich für mich bereits festgestellt hatte zu sein: Ich bin zu viel, überflüssig. Ich bin geduldet, nicht Teil. Und machtlos, weil einfach nicht begabt.

Noch heute spiegelt sich meine Sehnsucht, Teil sein zu können, in der Vorstellung, eine erwünschte Stimme in einem Chor sein zu dürfen, wider.

Eine Kirche beispielsweise, fühlt sich für mich „richtig“ an, wenn sie vom Klang (für mich) schöner Musik durchströmt ist. Wie berührend muss es erst sein, Teil derer zu sein, die so etwas zu tun vermögen!

Manchmal denke ich, ich würde gerne noch eine Sprache lernen.

Vielleicht sollte ich besser Gesangsunterricht nehmen.

Was mich bremst?

Mangelndes Vertrauen in die Fähigkeiten von Lehrern der Musik, sollen sie mir doch eigentlich das Lebendürfen beibringen.

 

Der Atem stockt

Ich kann und will diese Arbeit nicht mehr tun.

Alles streubt sich. Der Atem stockt.

Aufgemacht hatte ich mich in diesem Jahr. Und offen treffe ich auf meinen Arbeitsplatz.

Es war ein Platz für mich, ein Willkommensein, mir so wichtig, dass ich mich all die Jahre über alle Signale hinweggesetzt und die Qualen in Kauf genommen habe. Fühlte ich mich doch auch gerade in dieser Qual als Teil meiner Kollegenschar.

Teilsein. Da sein dürfen.

Für dieses Gefühl nahm ich es auf mich, gegen die paar Werte zu arbeiten, die ich für mich schon gefunden habe. Ich unterstütze dieses System, so mit kranken Menschen umzugehen, indem ich mich meiner selbsternannten Machtlosigkeit unterwerfe und meinem derzeitigen Gefühl, das das nicht richtig ist, misstraue.

Auch wenn ich echte Schwierigkeiten damit habe, zu definieren, was genau:

Ich kann nicht mehr so viel geben und lassen. Ich spüre, ich kann diese Arbeit nicht mehr tun. Es mangelt mir an Konzentration, Geduld, Duldsamkeit, Flexibilität, Sanftmut. Und eben dem Gefühl, das Richtige zu tun. In mir und als Teil dieses Systems.

Infolgedessen quäle ich mich erneut.

Deutlich spürbar am Essverhalten.

Dieses dämpft die Schuld, die Sehnsucht nach Trost bei gleichzeitigem Gefühl der Untröstlichkeit.

Ich fühle mich zu klein für die folgenden Schritte.

Ich kann doch nicht mit 50 so eine Stelle aufgeben! Was soll ich tun? Was will ich tun? Wie weiter leben?

Es hat doch all die Jahre funktioniert… Klar. Aber zu welchem Preis?

Wie soll ich auf Körper, Seele und die neuen, fremden Gefühle und Gedanken hören können, wenn mir das so ungewohnt vorkommt?

Soll ich wirkliche all meine Sicherheiten in Frage stellen? Den Arbeitsplatz und am Ende noch die Wohnsituation?

Wie aber kann ich mich jemals „richtig“ fühlen, wenn ich tue, was sich falsch anfühlt?

Vertrauen lernen.

Indem ich es tue.

Das ist die Theorie.

Aktuell habe ich einfach nur Angst.

„Innehalten“!!!

schreit der Körper mit einer nicht zu überhörenden Erkältung: Auch ihm stockt der Atem.

„…nur noch eine Nacht durchhalten“ tröste ich ihn.

Ob das womöglich wahr wird?

Ungehaltensein zu leben träumen

 

Was wir lernen zu sein (Orginal: ‚tun‘)

Lernen wir, indem wir es tun.

benutzt von einem Zitat Aristoteles‘

 

„Und ich gebe dem Arbeitsbeginn auch fast gerne ein bisschen meiner Freiheit ab.“ (Zitat aus meinem Beitrag „Fremdarbeit“)

Nein. Stimmt nicht.

Ich würde sie sehr gerne behalten. Und zwar ganz.

Durch Tun mein äußerliches wie innerliches Ungehaltensein leben und dadurch vielleicht auch anzunehmen lernen.

 

Die Vorstellung ist so reizvoll

 

wie naiv.

 

Und ich bin ja gar nicht haltlos, sondern fühle mich durch Vernunft gebändigt und durch Angst gefesselt.

So schade.

 

Und dann dieses Zettelchen am Teebeutel heute Morgen:

 

 

Was soll ich dazu sagen?

Ich denke nämlich nicht gründlich über meinen Arbeitsbeginn, der Wohn- und Arbeitssituation, dem weiteren Lebensweg nach. Oder Dinge wie Autopflege, Ebayverkäufe und Krebsvorsorge.

 

Meine Gedanken sind viel lieber auf dem PCT.

 

Der Sehnsucht, dort zu sein und mich richtig zu fühlen. Ganz lange das Richtige tun. Im Weitergehen immer besser bei mir zu bleiben lernen. Mit all meinen Ängsten.

Mit dieser phantastischen Natur belohnt werden. Draußensein.

Da ist sie wieder, die idealisierende Sehnsucht des Frühjahrs… erschreckend und belustigend zugleich.

Weiß ich doch genau, wie schwer ich es dort mit mir hatte.

Aber andererseits weiß ich doch jetzt viel besser, was auf mich zukommt. Wo meine Schwierigkeiten liegen. Ich könnte es wieder von Neuem üben. Mich an Treffpunkten immer öfter gezielt zumuten üben statt die Einsamkeit suchen… Vertrauen üben in meine Entscheidungen bei Einkäufen und der Streckenplanung. Das Gepäck reduzieren. Mich einfach nochmal ins Wagnis stürzen.

Erwische ich mich während des ausschweifenden Tagträumens oder ist es etwa schon ein verspielter, jetzt nicht mehr ganz verschwiegener Planungsbeginn? Der Tag der Antragstellung für den Long-Distance-Permit naht…

Aber sind Naivität, Lust, Verträumt- und Verrücktsein, nicht die Vorboten von Vertrauen? Das Salz in der Suppe?

Nein. Wohl eher nur der unbeholfene Versuch vor dem alltäglichen Leben zu fliehen.

Immer wieder dieselben Fragen.

Ach, und wenn schon.

In Uffenheim habe ich den für mich sehr stimmigen Satz gefunden: „Ich will nicht mehr (zwanghaft) essen, ich will was anderes“ (Trost, mich annehmen und in mir ruhen können, das Gefühl, sicher angekommen zu sein, mit mir zufrieden sein, Nähe und Vertrauen, usw…).

Ich will meinen früheren Alltag nicht mehr. Ich will irgendetwas anderes. Und so lange ich nichts ähnlich phantastisch Schmeckendes mit mir anzufangen weiß oder anfangen will, träume ich eben ein bisschen vom Ganzsein auf dem PCT…

…und unterlasse es vorsichtshalber, mir Bilder anzusehen 😉

Herbstreise und Danke: Ja, Dir.

Ich musste wieder weg.

Es war am Donnerstag, den 11. Oktober. Die Reise führte mich zunächst in den Norden zu Brigitte, Clara und Arthur, Frau Mauz und Bruno nach Weitendorf.

„Weitendorf“ ist ein so schöner Name für diesen Platz. Ich bin noch jetzt fasziniert von… wie soll ich es beschreiben?

Ich habe so eine Geste im Sinn: Kennt Ihr diesen freundlichen, aufwärts nickenden Blick über die Schultern, der, kaum sichtbar zwinkernd, aufmuntert, einfach mal mitzukommen? Genau das machte diese völlig unaufgeregte Gelassenheit, mit der ich mich dort bei Euch willkommen fühlte. Ich mich und mit mir meine Dauerbegleiter „Zweifel und Angst“. Zugegeben: Die beiden waren echt beeindruckt und schauten sich irritiert um: Könnte es wirklich einen Platz zum Loslassen und Beinebaumeln geben?

Noch immer irgendwie ungläubig staunend sage ich:

„Danke“.

Wir kommen wieder.

Ein Termin führte mich am Montag, den 16. Oktober nach Goslar. Ich blieb anschließend zwei Nächte in Braunlage.

Wir saßen auf den Bänken am Torfhaus, in Duderstadt und mehrere hundert, oft kurvige Kilometer auf denen der Motorräder – an diesem sonnigen Dienstag im Harz.

Ja, schön war’s mit Dir, Matthias! Hab‘ Dank. Gerne wieder… (von guten Dingen kann ich so schlecht genug bekommen 😉 ).

Nein, zurück nach Wetzlar wollte und konnte ich noch immer nicht.

Ich fürchte, bei mir wollen Gehör, Verstand und Gefühl oft einfach nichts miteinander zu tun haben. Aber irgendwie hast Du’s geschafft, Christoph, und so oft „Du bist willkommen“ gesagt, dass ich mich gerne zu Dir auf den Weg nach Nürnberg gemacht habe. Ich bin durch Deine weit geöffnete Türe gegangen und durfte und konnte ganz lange (bis zum Do., 26.10.) bleiben. Du hast mich und ich es bei Dir mit mir (aus-) gehalten.

Und das war, gerade zum Abschluss dieses, meines Jahres des realen, aber mehr noch des emotionalen „Aufgemachtseins“, nicht immer einfach.

Ich atme ein und spüre sie, die tiefe Dankbarkeit.

Ich danke Euch allen, die Ihr mich begleitet habt. Euch, zu denen ich Vertrauen haben, leben oder es mit Eurer Hilfe immer wieder üben kann.

Es ist ein Spiegel. Wie ich Euch, so ich irgendwie auch mir:

Ich nenne es „mein Herz öffnen können“.

In diesem klitzekleinen Moment.

 

Fremdarbeit

Es ist der 1. November 2017.

Ich nehme zwei Schlüssel aus dem Kasten. Einer hängt seit einem halben Jahr ununterbrochen oben links in der Ecke. Manchmal habe ich ihn gesehen. Es ist wohl nicht möglich, gleichzeitig zu seufzen und selbstermutigend tief einzuatmen. Sonst täte ich es in diesem Moment wohl.

Ich lasse sie leise klimpernd in meine Jackentasche fallen.

Türe auf, Licht aus, Türe zu, Treppe runter. Die Haustüre fällt ins Schloss.

Es ist dunkel.

Der Zeigefinger macht diese kleine Bewegung und ein gefühlt viel zu lautes fünfstimmiges Klacken öffnet die Türen des Dacias. Ich steige ein, suche auch nach sieben Jahren noch das Zündschloss und finde es spätestens mithilfe eines genervten Blickes. Der Motor springt an und los geht’s. Die Strecke wird mir gleichzeitig merkwürdig fremd und vertraut vorkommen. Nach ca. fünfunddreißig bis vierzig Minuten bin ich an der Arbeit.

Wie wird die Antwort meines winkenden Abendgrußes ins Pförtnerhaus ausfallen? Gleichgültig, irrtiert oder gar erfreut? Ich bin schon jetzt neugierig.

Und vielleicht blinzelt mir ja der blaue Golf schon erwartend zu, wenn ich ganz langsam zum Parkplatz hoch fahre?

Ach, ich freu‘ mich auf Dich, Irene!

Wir werden uns herzen und gemeinsam die vielleicht 367. und gleichzeitig erste Nacht verbringen.

Ich werde mich fremd fühlen.

Und keine Angst davor haben.

Ich werde mich an Laage erinnern: Mich fremd zu fühlen ist ein, ja, so gesehen auch willkommener Teil von mir. Ich habe ihn sehen gelernt. Und komme mit dem Schmerz schon ein bisschen besser klar. Jetzt im Moment habe ich verstanden: Ich kann aufhören, dort geliebt werden zu wollen und anfangen, zu arbeiten.

Ja, ich habe Angst vor dem Versagen meiner Fähigkeit und dem Verlust meines Willens, meine Grenzen zu erkennen und sie zu respektieren. Dem infolgedessen haltlosen Inmichzusammenfallen oder dem Rückfall in alte, dämpfende Muster.

Aber nur die Zukunft weiß, was wirklich wird.

Und ich gebe dem Arbeitsbeginn auch fast gerne ein bisschen meiner Freiheit ab. Ich habe die vage Hoffnung, mein auch kräftezehrendes, fast grenzenloses Getriebensein durch die festen Termine ein wenig einzudämmen. Um vielleicht, passend zur Jahreszeit, ein wenig zur Ruhe zu finden.

So viel zur Theorie.

Es gibt sie also, die Früchte des Jahres. Manche kann ich vielleicht schon erahnen und ich bin gespannt, wie sie duften und aussehen und hoffe, sie ehrlich und innig zu lieben.

Und ich freue mich schon auf das Erntedankfest mit Euch!!!

Irgendwann…


Gleichzeitig

Ich bin hier in Nürnberg bei Christoph von Herzen und fast bedingungslos willkommen, der Himmel lacht blau, und die BMW wartet unten am Gingkobaum. Ich freue mich, mit ihr die kleinen Strässchen der fränkischen Schweiz zu erkunden.

Ich bin gesund.

Sehe Früchte und Freunde.

So viel Glück!

Aber trotzdem drängt sich die Traurigkeit vor, lässt ihre Tränen frei.

Die Argumente der Vernunft sind machtlos.

 

Woanders

Ich musste wieder weg.

Ich habe Brigitte seit Jahren nicht besucht. Als Ausrede diente neben dem Faktor „Zeit“ doch immer die Entfernung. Diesmal aber hatten diese beiden gegen das Gefühl des völlig entspannten Willkommenseins einfach keine Chance. Ein kurzer Anruf genügte.

Schon einen Tag später saß ich in einem Straßencafé des Städtchens Laage im Landkreis Rostock und übte mich im simplen Dasein.

Passanten kamen vorbei und schnackten Plattdütsch. Geklinkerte Fußgängerwege. Auf einem Stand des Wochenmarktes wurden „polnische Spezialitäten“ feil geboten. Und in der Bäckerei nebenan gab es heute „Wrunkeneintopf“.

(Wo-) Anders sein.

Ich bin fremd hier.

Fühle mich als Beobachter der Szenerie, nicht als Teil.

Mehr noch: Unwichtig und überflüssig. Passe nicht recht hinein, ohne damit bei den Akteuren nennenswerte Aufmerksamkeit zu erregen.

Was mir vertraut vorkommt…

Fliehe ich aus meinem Leben um mein Fühlen zu leben? Das, was ich glaube zu sein?

Fremd, anders, irgendwie „falsch“ zu sein fühlt sich „woanders“ einfach ein bisschen richtiger an.