Weit weg in Sicherheit?

 

Bild 1: Gefangene Leere

Immaginationsübungen sind ein mir sehr dienliches therapeutisches Mittel. Sie lassen Bilder aufsteigen, setzen sie in Verbindung mit Gefühlen und eventuell erlebten Situationen. In sicherer Distanz zum Drama der Vergangenheit können mithilfe von therapeutischer Begleitung und Anleitung neue Sichtweisen, Denkansätze, Lösungsstrategien und letztenlich Verhaltensweisen entwickelt werden.

Es ist wohl kein Geheimnis, das sich mir Bilder in vielerlei Beziehung sehr hilfreich anfühlen.

Ingrid „führte“ mich an meine Leere, ließ mich zunächst vorsichtig hineinblicken, dann hineinstürzen, holte immaginäre Helfer, die mich auffingen und mich auf meinem Weg hinaus begleiteten. Dann ließ sie mich einen stabilen Zaun drum herum bauen. Einen, der ganz sicher hält. Ich musste und konnte selbst kontrollieren, dass er verlässlich und sicher ist. Und dann sollte ich den Abstand vergrößern. Immer weiter weg, so weit, bis ich in Sicherheit sei und sich der Abstand gut und richtig anfühlt. Nachfühlen. In meiner Vorstellung war da eine Bank, auf die ich mich setzte, um in Ruhe zu atmen. Ich sah, dass es noch viel mehr gab, als das Ding da in der Ferne, vor dem ich mich sicher fühlte. Viel Raum war da, den man nicht sehen kann, wenn man auf etwas stiert.

Die Hausaufgabe bestand im Anfertigen eines Bildes.

Die Rückseite trägt eine Notiz:

„Sommer 2011 / weit weg in Sicherheit? / Gibt es auch einen anderen Blick?


Bild 2: Geschützte Weite

Zur Zeit bin ich eigentlich immer im oder in der Nähe des hiesigen Naturschutzgebietes „Am Weinberg“ unterwegs. Es handelt sich um einen ehmaligen Truppenübungsplatz der Bundeswehr. Der Boden ist von jahrzehntelangem Panzerfahren verdichtet, sodass viel wächst, was sonst nicht darf. Regelmäßiger Pflegebesuch der ansässigen Schafherde schützt die heutigen Trockenwiesen. So kann der Blick bei aller sonstigen Belassenheit in viele Richtungen weit schweifen. Einerseits trifft er immer wieder den Düns- andererseits den Feldberg. Hinter Lahn und B49 ist das Kloster Altenberg. Und dann ist da noch Wetzlar mit der Ruine Kalsmunt und dem Krankenhaus auf seinen Erhebungen thronend, dahinter der Stoppelberg. Im Herbst leuchten die bunten Hecken und Sträucher, die knallroten Hagebutten und die vertrockneten Distelblüten. Champignons brechen sich durch den harten Boden. Und oft bücke ich mich nach einem Halm violett blühenden Thymians, der dank meiner Phantasie noch würziger duftet und schmeckt, als er wild ist. Gestern gab es noch mehrere Züge Kraniche zu hören und sehnend ziehen zu lassen. Dazu der blassblaue Himmel, Bühnenbild des zur Zeit allabendlich an lodernde Glut erinnernden Sonnenuntergangs.


Kein Gebäude auf beiden Bildern. Damals auf dem Bild dachte ich, wie wunderbar weit alles sei: So viel Platz zum Bauen bzw. Erschaffen. Gestern, im Naturschutzgebiet, dachte ich: Wie wunderbar es ist, dass dort kein Platz zum Bauen ist!


Bild 3: Träume vom Wahrwerden

Und wenn ich so laufe, mein Hirn sich von Sonstigem entspannt, füllt es sich sogleich von Neuem. Es webt mit irgendwelchen Spinnereien wunderschöne Netze. Sie spinnen im Schimmer des seeligen Loslassens Träume von ihrer Welt ins Land des Wohmöglichdochwahrwerdenoderseinkönnens. Netze, die sich über die doch unheilbaren Wunden legen, sie zu stillen scheinen können. Der Glaube, es könnte heilen, noch in dieser Welt. Ich versinke immer wieder darin und davon. Es federt so sanft, scheint tragen zu können. Und fühlt sich so wunderbar unwirklich wahr an, als sei ich in der und die Bar der Wunder zugleich.

Bis dort, wo ich wieder ankomme.

Die Netze des Hirns sind nicht lange haltbar. So wenig in der Wahrheit, wie in der Phantasie.

Mein Hirn versucht sich immer wieder im Unmöglichen. Kein Wunder, das ihm sonst so wenig möglich ist.


Gibt es auch einen anderen Blick?

Ja. Nicht nur den damals so wundersamen Blick in die Weite, weg vom Krater der Leere. Sondern auch den in die Nähe: Muss ich mich wirklich vor der Leere schützen? Lässt sie sich fangen wie ein Wildtier? Will ich das? Muss ich sie vielleicht noch mehr vor mir schützen als umgekehrt? So wie eine selten schöne Art Wesen?

Hirn, lass‘ ab. Ich will nichts in dieser Landschaft errichten, nichts vernichten, nichts fangen oder frei lassen. Es ist nichts dergleichen von Wert. Denn dann gäbe es auch Unwert (und der wäre automatisch ich). Will nicht drinnen, nicht draußen, nicht Käfig, nicht Weite oder Boden, nicht Kämpfer oder Opfer sein.

Meine Leere ist nicht zu füllen, nicht zu stillen, nicht zu heilen. Weder von außen, noch von innen. Ich kann nichts tun. Ich brauche nichts tun. Sie darf mich begleiten. Sie darf bleiben, wie sie ist. Neben mir gehen, wie ein Schatten. Oder fern sein wie eine gewiss in und mit mir lebende, aber gerade unsichtbare Wesensart. Gemeinsam ein Ganzes sein. Und jeder seins.

Wahr-nehmen. Nicht wahr träumen, Karin.

So viel zur Theorie.

Ich will sein lernen, nicht mehr sein zu wollen.

Wenn ich (etwas) sein will, bin ich es nicht.

Ich bin…

Ich bin. Basta.

 

 

Haftnotiz 20%

11.10.2018 8:42 Uhr

Jetzt. Sozusagen. Ist schon wieder vorbei.

Sind sie sich ähnlich? Das Jetzt, das es nicht mehr ist, und das Jetzt jetzt?

Egal.

Das Therapieprogramm DBT beinhaltet das Führen einer Spannungskurve. Gerade bin ich bei ca. 20% würde ich sagen. Das ist ein Entspannungsgrad, den ich sehr selten empfinde. Es ist ein Moment, in dem ich mich weitgehend in Ruhe lassen kann. Ein Moment, der so selten ist, das das Feststellen seiner Existenz schon zum Ansteigen der Spannungskurve, also zu seiner Vernichtung, führt.

Auch der Genuss eines Cappuccinos entsteht im Vergehen.

Wohl möglich aber bleibt eine Erinnerung. Gerade schreibe ich eine Haftnotiz für’s Hirn.

Ich sitze im Bett. Ich kann den Himmel sehen. Wolkenlos blau zeigt er sich mit Weite und Aussicht auf einen Schönwettertag.

Der Lärm der Baustelle nebenan erlaubt mir noch offene Fenster. Aber die Einfachverglasung in uralten, schön schmalen Holzfenstern kann ihm ja auch geschlossen nicht viel entgegenhalten.

Die Bedeutung dessen, was sich zugerufen wird, verstehe ich nicht. Sie gehen ihrer Arbeit nach.

Lohn gegen Arbeit. Das ist der Deal mit dem Chef. Was will er haben? Wirklich? In welches Nest setze ich mich – mehr oder weniger bewusst? Was will ich geben? Was will ich von ihm? Was soll er mir geben? Außer Geld?

Aber das ist ein anderes Thema. An das ich mich noch nicht mal vorsichtig ran tasten will. Nicht wirklich.

Ich habe heute Nachmittag Termine. Und sollte mich doch jetzt bewegen, statt gemütlich unter der warmen Federdecke zu sitzen bei Tee und Gelassenheit.

Worauf habe ich wirklich Lust? Kann ich mich lustig machen? Geht Lust ohne Unlust? Kann ich mir erlauben, jetzt Lust zu spüren und dieser, meiner Lust nachzugehen?

Nein, ich habe keine Lust auf inneres Genörgel. („Du willst nur fliehen vor uns Nörglern, Du solltest doch eigentlich… dies das besser sicher tun machen“)

Aber ich habe Lust auf’s Momente sammeln, halten und staunend betrachten.

Mal sehen, wo ich noch einen Moment des Nörglers finde – mitten im Einfachsein.

Macht er sich da etwa gerade verlustig? Ohne mich?

Ich geh‘ mal gucken. Vielleicht können wir was zusammen erleben?

Ich ihn und er mich da sein lassen. Also

Ganz und einfach sein = Ganzeinfachsein.

 

 

 

Entwicklung

Es ist vier Uhr nachts. Ich finde den Schlaf nicht mehr, aus dem ich komme. Milder Straßenlärm dringt durchs offene Fenster ein. Und Dunkelheit.

Ein Wort lässt mich seit gestern nicht mehr in Ruhe. Es ist wohl eine Frucht am Baum des – zumindest: Blogbeitrag – Werdens.

Nun ist es reif…

Was ich verstanden habe, war eine einfache Frage nach dem, wie es mir ergeht, was sich bei mir „entwickelt“.

Und ich habe ein Bild gefunden, das ich vermutlich irgendwann einmal in einem Comic gesehen habe:

In meinem Kopf zieht Obelix, so wie er nunmal ist, zwar gutherzig, kindlich naiv unüberlegt neugierig, aber tölpelhaft an den Bändern, mit denen eine Mumie eingewickelt ist. Die bereits gelösten weißen Bahnen füllen das Bild, fliegen durch die Luft, bilden Haufen am Boden. Das, was da entwickelt wird, ist nicht zu erkennen. Es wird durch den Zug wild herumgewirbelt und dabei immer wieder auf den Boden geschlagen.

Entwicklung findet bei mir irgendwie gefühlt passiv statt. Ich entwickele mich wenn, dann wohl so wie Obelix es täte.

Gerade stecke ich in der Hilflosigkeit des Bildes. Was kommt da zum Vorschein, wenn die Bänder weg sind? Ich habe Angst, das da nichts ist, was es zu entwickeln gäbe. Nichts, woran ich wirklich glauben könnte. Was von Wert wäre… Und keine Spur von Vertrauen, das ich es für / gut halten könnte.

Ich erinnere mich an eine Übung in der Klinik in Uffenheim. Die Übung fand in Dreiergruppen statt. DIN A 4 Blätter am Boden markierten einen Schritt der Entwicklung. Man wechselte sich ab: Ein „Helfer“ las vorgegebene Fragen nach persönlichen Leitlinien und Werten im Leben vor. Der, der die Übung gerade durchführte beantwortete die Frage laut und durfte einen Schritt weiter voran auf das nächste Blatt schreiten. Ein weiterer Helfer machte davon Notizen.

Mindestens zehn solcher Dreiergruppen führten die Übung gleichzeitig durch. Der Raum füllte sich mit Fragen, Antworten, Emotionen.

Ich war schon einige Wochen dort und spürbar innerlich aufgebrochen auf meinem Weg, der mich heute hier her an den Computer zum tippen dieser Zeilen gebracht hat. Einige Bahnen des Stoffes von Dämpfung und Schutz waren schon weg.

Ich weiß nicht mehr genau, wie die Fragen lauteten, aber ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr sie alles, was mich zu halten schien, durchdrangen. Ich alleine für mich hätte mich ihnen und meiner Leere vielleicht noch vorsichtiger nähern können… so aber nicht.

Etwa nach der Hälfte, genauer gesagt bei der Frage nach meinen „Fähigkeiten“, brach ich die Übung ab.

Ich weiß gar nicht mehr, ob ich äußerlich als Helfer weiter da sein konnte. Es kann gut sein, dass ich das hinbekommen habe.

Innerlich jedenfalls war ich nicht mehr da, war, und das kann ich heute erstmalig in Worten erfassen, dem Druck des Leeregefühls erlegen.

In diesem Zustand sind die Gefühle Scham, Schuld, Verzweiflung wie eine Decke des Schutzes. Die Härte der Selbstentwertung passives Mittel des Haltes, die erste Leiterstufe auf dem Weg zurück.

Genau diese Erkenntnis lässt mich ein innerliches Aufatmen wagen. Ein neuer Blick auf das, was mein Hirn manchmal produziert. Es ist noch da zum Schutz, bis ich so weit bin, mich dem mutig stellen zu wagen, was da ist.

Neulich fasste ich beim Gespräch mit meiner langjährigen Hausärztin mein Erleben in mich hineinfallend mit „Ich bin so kaputt…“ zusammen. Worauf sie meinte, sie würde es eher so sehen: „…schon SO kaputt!!!“ Ich hätte schon so viel geschafft. Unser Lachen tat mir so gut.

Und ich freue mich sehr über dieses Bild vom mumienentwurschtelnden Obelix. Und ich kann mich auch erinnern, dass es im Comic kein ekeliges, verabscheuungswürdiges, totes Etwas war, was er da entwickelte.

Es war ein lebendiger Mensch.

 

 

Leid halten


Screenshot einer Handynotiz. „Eines angelutschten Gedankenbonbons“:
 

Sie müssen es nicht aushalten

Sie halten mich aus

 

Ich halte es aus.

Ich halte es        ?

Das Leid Das Leiden

ich halte es     Aus !

 

Es war einer dieser Momente der schmerzhaft umkämpften Haltlosigkeit.

Das zermalmende Gefühl der Unfähigkeit, „Es“ aushalten zu können.

Indem ich das „Schlimme“, das Leiden, von mir trenne, es glaube, mit anderen teilen zu müssen, vergrößere ich meine Unfähigkeit, also es, das Gefühl, mich selbst (aus-) halten zu können.

Indem ich es (nicht /aus-) halte, halte ich es.

Indem ich es nicht (wahr-) haben kann, füttere ich dessen Existenz, die Angst davor, den Schrecken…

Indem ich es er- lebe, lebe ich. Er-

Leben

?!!

 

Gummi: Umso stärker ich ziehe, desto stärker der Zug.

 

Weißrauschknirschen

Knirschen

Vor ca. 35 Jahren hatte ich für eine Weile begonnen, regelmäßig bei uns im Wald zu joggen.

Manchmal war ich „im Flow“ und spürte ich mich sein, indem ich wahrnahm, wie sich die kleinen Steinchen des befestigten Weges unter meinen Schuhen bewegten.

Ich nahm meine Existenz wahr, indem die die Auswirkung meiner Körperbewegungen auf die Umwelt wahrnahm.

Ich blendete alles andere aus, nahm die Szene wahr und mich darin an.

Ich habe nur ein „nicht zu greifendes Gefühl“ dafür. Es ist eine ungläubige Faszination an der Schlichtheit der Existenz und Sinn des Lebens, das nur den einen Moment für sich in Anspruch nimmt.

Zu erkennen am Knirschen.

Es ist die einfache Erfahrung, dass ich bin. Es knirscht. Nicht mehr, nicht weniger. Nicht falsch, nicht richtig.

Eine Dimension tut sich auf: Kann es so einfach sein?

Fasziniert, erstaunt.

Ungläubig.

Tröstend, entlastend.

Zweifelnd.

Ich erkannte die, meine kleine, hoffnungsschwangere Weisheit für einen Moment – und im selben war sie weg.

Aber mit jedem Schritt steht es mir frei, sie wieder neu zu (er-) finden.

Weißrauschen

Es erklingt im Meer oder beim Prasseln des Regens. Auch das Rauschen nach Sendeschluss (den nur noch wir kennen 🙂 ) ähnele dem Geräusch, das Ungeborene angeblich beständig hören sollen. Manchem Unterbewusstsein vermittele das „weiße Rauschen“ deshalb noch Jahrzehnte nach der Geburt ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit.

Weißrauschknirschen

…nenne ich von nun an das Geräusch, das entsteht, wenn ich auf schottrig befestigten Wegen wandere. Es schwingt aber auch mit, wenn vertrocknete Halme der Grasnabe auf Feldwegen unter meinen Füßen zerbersten.

Dass mir das Laufen so gut tut, hat sicher viele Gründe.

Das Weißrauschknirschen ist wohl einer von ihnen.

Nein – Stemmen

Oder würde „Stämmen“ nicht besser passen ins Bild, das ich mir einprägen will?

Mich stämmen gegen…

Die Wahrheit derer, die alles zer dröhnt, stört, sägt, fetzt.

Kritiker und Antreiber, maßlos wild, gerichtet.

Gegen, nicht für mich.

Wie ein Sturm ziehen sie ein.

Mich stämmen gegen ihre Wahrheit, die dann meine scheint.

Mich stämmen mit allem Nein, das ich aufbringen kann.

Ihr seid meine, aber nicht Eure Wahrheit.

Ihr seid wahr, aber ihr habt kein Recht.

Keine Verirrung mehr, Euch folgend.

Keine Argumente, keine Spiegelsuche, kein Gewimmer.

Nur

Nein.

 

Zwischen War und Wird

 

Ich bin noch gar nicht da, aber schon hier.

„Hier“ heißt: Nürnberg. „Da“ heißt „Vierzehn Tage Station 20 IV links“, Aufnahmetermin morgen.

Morgen. Nicht: Gestern…

Es geht also weiter. Wohin? Spannende Frage…

Es gibt so viel zu verzeihen für mich und mir selbst, dass ich davor kapituliere und es somit tue.

Ein konkreter, recht frischer Baustein dieses Mauergerüstes aus „Muss“, „Hättewäresollte“ und „Kann(einfach/aber)nicht“ einwattiert in Variationen von Scham und Schuld ist frisch hinzu gekommen und ich versuche gerade, ihn irgendwie abzutragen, also die Watte zu füttern…

Der Weg ist das Ziel.

Ich sitze hier zwischen War und Wird.

Sehe auf das zurück, was ich kürzlich erlebt und konstruiert habe.

Er, der Baustein, war ein Riesendurcheinander aus Unnötigkeiten, entstanden durch Verunsicherung und Nachlässigkeit. Unverzeihlich, eigentlich.

Aber ich sitze hier und blicke auf die Landschaft. Hinter mir liegt „War“. Vor mir liegt ein ziemlich konkretes „Wird“. Aber nur durch den kürzlich gegangenen Weg durch das Chaos kann ich von hier aus auch auf ein neues, mögliches „Wird“ blicken.

Das Chaos birgt also Geschenke. Ich packe sie aus. Und übe mich darin, was ich auspacke, als ein kommendes Geschenk zu werten.

Das Chaos war (- vielleicht / für mich noch -) nötig, sonst säße ich nicht hier.

Nur durch das Chaos habe ich zwei freie Tage hier in Nürnberg geschenkt bekommen. Nur durch das Chaos konnte ich mir so gestern eine mögliche zukünftige Rehaeinrichtung ansehen.

Nur durch das Chaos sitze ich jetzt hier.

Hier in der Wohnung des Menschen, den ich damals in der systemischen Aufstellung gebeten habe, für mein Mitgefühl zu stehen. Und er hatte zugestimmt. Christoph. Er ist gar nicht hier, bringt es aber fertig, dass ich Willkommensein und Vertrauen spüren kann.

Sei es in oder durch Abwesenheit?

Egal.

Wie lange bis zu meinem nächsten Einbruch / Absturz?

Egal.

Wie gut das tut. Es fühlt sich gut an. Jetzt.

Ich bekomme, was ich brauche, um jetzt hier zu sein.

Und so ist das konkrete Hier und Jetzt wieder nur ein Abbild für mein Leben.

Was gewesen ist, war nötig. Ob ich will oder nicht.

Was kommt, ist wichtig: Ob ich will oder nicht.

Wichtig wozu? Wohin soll es gehen?

Kann ich mir irgendwann die Erlaubnis geben, ein Ziel für mich zu formulieren? Werde ich es mir anvertrauen können?

Ist der Widerstand und die Angst davor nötig, um zu spüren und zu verstehen lernen, dass es darum für mich gar nicht gehen muss?

Und mein Dank gilt Euch, die Ihr mich begleitet. Sei es als Spiegel oder Mitgefühl, sei es als Lieferant oder Spürnase für Bausteine, Gerüste oder Watte jeder Art. Sei es in ständiger, sporadischer oder vergangener, tatsächlicher oder unsichtbaren Anwesenheit, sei es irgendwo zwischen verhasst oder in tiefer Liebe.

Die ihr die Rolle wechselt oder irgendwie alles auf ein Mal sein könnt.

Ob ihr wollt oder nicht.

Ob ihr es wisst oder nicht.

Ob wir uns schon ewig + drei Tage kennen oder noch gar nicht:

Mit bzw. durch Euch kann ich mein Leben lernen sein und mich lebend sein zu lassen.

 

 

Splitter 49 – Ein Plan

Ein Plan

Ich war die erste im Raum und unerwartet. Der Therapeut der Holzwerkgruppe konnte nach meiner kurzen Vorstellung seine Unkenntnis über seinen Gruppenzuwachs zwar nicht verbergen, sammelte seine erschlafften Gesichtszüge aber sehr schnell wieder ein und frug mich sogleich:

„Ja, und was wollen sie machen?“

Und dieses Gefühl, das er mit dieser harmlosen Frage in mir auslöste, kenne ich gut. Zuletzt begegnete ich ihm neulich in der Ergotherapie in sehr ähnlicher Situation.

Ich weiß es nicht.

Völlig übertriebene, abgrundtiefe Ratlosigkeit und Angst überschwemmen mich, Ärger und Weglaufenwollen, die pure Unfähigkeit, darauf eine Antwort zu finden. Alles ist nicht gut genug oder fühlt sich nicht richtig an, weder das Angebot, noch ich, weder der Therapeut, noch die Beschaffenheit des Fußbodens. Die Fülle der Möglichkeiten erschlägt mich und gleichzeitig fühle ich mich für alles zu klein, unfähig, nicht in der Lage.

Es ist eben das selbe Gefühl, das sich einstellt, wenn ich an meine bisherige und die zukünftige Lebensgestaltung denke – und eben und nur deshalb so bedrohlich.

Ich stammelte herum. Ich brauche nichts. Und ich will auch nichts verschenken, was andere vermutlich weder benötigen noch haben wollen. Produktion für den Mülleimer kommt auch nicht in Frage.

Ob er etwas brauche, was er auf einem Basar gut verkaufen könne? Nein, auf einen Basar gehe er nicht.

Ich sagte ihm, dass es mir eher darum ginge, mit Holz umzugehen, als irgend etwas herzustellen. Das Material kennenlernen. Schleifen, hobeln,…

Er drückte mir ein paar Vorlagen in die Hand und zeigte mir einen recht groben Bausatz zur Herstellung eines apfelhaltenden Vogelhauses. Das machte mich neugierig: Die Teile wollten zersägt, geschliffen, zusammengefügt und mit persönlicher Note gestaltet werden… aus rechten Winkeln Rundungen machen. Aus Schnittkanten glatte Flächen.

Ein Vogelhaus? Naja, das unsrige macht keinen so stabilen Eindruck mehr. Aber Äpfel sind nicht gerade die Leibspeise unserer immerhungrigen, fliegfertigen Besucher. Mein Ergotherapeut aus dem Nachbarraum kam vorbei und zeigte mir das von Kleibern umgarnte Vogelhaus vor der Türe.

Drei Möglichkeiten und zwei Gespräche mit Menschen, die mich ein Stück weit begleiten und unterstützen werden, reichten aus: Ich gab mir die Erlaubnis, „Ja“ zu sagen und „einfach“ zu beginnen. Ich nahm Maße, bekam Ideen, machte eine Skizze, notierte den Materialbedarf, mache mir Gedanken über das Vorgehen.

Ich habe einen Plan. Vertraue auf Hilfe. Und werde sie annehmen.

Vielleicht: Üben für’s Leben.

 


Nachtrag vom 2. Juni:

Bonbon gegen die Angst

In Uffenheim wurde ich zu Beginn gefragt, in welche ein Mal wöchentlich stattfindende Indikationsgruppe ich denn gehen wolle? „Depression und Lebensfreude“ oder „Angst und Mut“? Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich mehr als erstaunt über diese Frage war: Was habe ich denn mit „Angst“ zu tun?

Heute bin ich erstaunt darüber, wie tief dieses Gefühl verbuddelt war unter der Fassade aus Essen, Fernsehen, Arbeit, Alltag – Funktionieren.

Klar, ohne Grund bin ich nicht in eine Psychosomatische Klinik gegangen. Da brodelte was und war irgendwann auch für mich nicht mehr vor mir selbst zu verstecken. Ich kann heute noch nicht mal sagen, was ich mir denn erhofft hatte, los zu werden außer ein paar Kilos. Vielleicht wollte ich gar nichts los werden, sondern es nur einfach leichter haben im Leben.

„Bevor es leichter wird, ist es schwer“

Ich habe es ziemlich schwer zur Zeit. Und ich merke, dass ich nicht weiß, was ich will. Deshalb müsste ich mich auf die Suche machen nach dem, was sich für mich besser anfühlt. Und mich dann trauen, zu diesem Gefühl zu stehen. Offen zu bleiben. Lernen, auch damit klar zu kommen, wenn es sich plötzlich nicht mehr richtig anfühlt. Nicht mich selbst deshalb zu kritisieren, sondern erneut für mich den besseren Platz suchen.

Zur Zeit zweifele ich noch erbärmlich an mir. Zwar stelle ich immer wieder aufs Neue fest, dass es mir nicht gut geht. Und ich stelle die Frage nach dem Grund und kann sie nicht beantworten. Hänge fest, komme nicht weiter, traue mich nicht wirklich, mich mutig auf die Suche zu machen.

Ich habe Angst, so viel steht fest. Irreale Ängste, die mir, einer Frau von fünfzig Jahren nicht wirklich angemessen sind. Ängste, die ins Kinderbett gehören. Dort kommen sie her. Dort habe ich sie erlebt, dort hätten sie erkannt und gesehen, beweint und getröstet werden müssen. Angst vor dem Verlassenwerden, vor dem Übrigbleiben, vor dem „nicht die Richtige“ bzw. „irgendwie  nicht richtig“ und vor dem einfach „zu viel“ bzw. einfach nur „Last“ zu sein. Und heute gesellt sich noch die Angst vor der Angst hinzu, diese Gefühle wie tiefe Trauer und Sehnsucht nun ständig, wieder und wieder durchleben zu müssen und, wie ein kleines Kind, ihnen machtlos ausgeliefert zu sein.

Vor ein paar Tagen habe ich mit Klaus im Dom (der eigentlich keiner ist 😉 ) die Johannespassion von Johann Sebastian Bach gehört. Viele kennen den Schlusschoral, nehme ich mal an. Und ich höre ihn heute wieder und wieder…

Ruhet wohl, ihr heiligen Gebeine,
die ich nun weiter nicht beweine,
ruhet wohl und bringt auch mich zur Ruh.
Das Grab, so euch bestimmet ist,
und ferner keine Not umschließt,
macht mir den Himmel auf und schließt die Hölle zu.

…weil ich ihn noch nie so gehört habe: Ich höre diese Musik, wie als ob ich einen Gefühlsgedankenbonbon mit Geschmacksrichtung „Erlösend“ in den Mund genommen hätte.

Die alten Sehnsüchte und Schmerzen ruhen lassen. Abgeben in die mitfühlenden Hände der Vergangenheit. Dort hin, wohin sie gehören. Mitfühlende, willkommenheißende Hände an offenen, weiten Armen voller Leichtigkeit und Halt, die damals für mich so wenig ins Leben gehörten wie heute diese alleslähmende Angst und die vorauseilende, ihr die Türe öffnende Selbstentwertung.

Ja, so könnte Erlösung schmecken. Es könnte auch ein Hauch Hoffnung und Trost dabei sein.

Jedenfalls: Möglicher Proviant für kommende Wege.