Drei nach Besuch

In den letzten Wochen habe ich besucht und ich bekam Besuch. Und ich habe dazu einen ganzen, bunten Strauß Auffälligkeiten geschenkt bekommen…


Aufführungen

Wenn ich gefragt werde, wie es mir geht, sage ich meistens „wechselhaft“, was den Tatsachen entspricht, denn was ich schon gelernt habe, ist die Vergänglichkeit von Gefühlen zu bemerken. Was vielleicht fehlt ist die emotionale Distanz dazu. Ich schaffe es oft noch nicht alleine. Ich lasse mich gerne begleiten, wobei mich die Schwere und die Verzweiflung völlig vereinnahmen, mir die Freude und Leichtigkeit, sollte ich sie überhaupt erkennen, hingegen sehr fremd vorkommen. Manchmal – selten, aber beeindruckend – treten die beiden zusammen mit Faszination, Verwunderung und Staunen auf die Bühne. Wenn das so ist, kam es schon vor, dass ich sogar meine engste Vertraute, die Sehnsucht, verließ und mich diesem Schauspiel ungeteilt hingab. Ich konnte mich darin aufgebend, einfach sein. Ein unbeschreiblich schönes Gefühl: Einfach Sein. Oder: Wenigstens mal in der Rolle des Seins sein.

„Schlimm ist nicht das Gefühl, sondern der Widerstand dagegen“ meinte mein Psychologe…

Immer wieder dasselbe, ich weiß… Aber nochmal anders entdeckt, erkannt, beschrieben: Nicht die Distanz könnte also die Lösung sein, sondern die Hingabe. Nicht das Erkennen und „Daseinlassen“ von Leiden, Wut und Angst sondern auch da: Sein. Wenn nur das Leiden, die Wut und die Angst nicht so abstoßend wären, so widerlich schwere Rollen, auch wenn ich sie gut kenne. Mir sind sie so bekannt wie die Leichtigkeit mir fremd ist.

Aber das nur am Rande. Denn gerade bin ich die, die den Blog schreibt. Die Neugierde schaut mir über die Schultern. Und wenn die da ist, ist die Freude nicht weit…


Ich freu‘ mich auf Dich -> Link in neues Browserfenster

Verständnis für die Existenz der Kompliziertheit, die immer mitmischen will, wenn Freude und Leichtigkeit auftauchen 😉


Im Ursprung erklärbar, aber grundlos

Nein, ich sagte nicht das übergeordnete „wechselhaft“, sondern ich sagte „es geht mir nicht gut“.

Es entsprach den Tatsachen des bisherigen Tages und dem Grund, warum ich meinen Raum verlassen und die kurze Reise angetreten hatte.

„Raus aus der Situation“, aufbrechen, unterwegs sein, ankommen, Willkommensein fühlen, wieder gehen dürfen. Freude locken. Freude erhoffen. Als Türöffner für Zuversicht, Leichtigkeit, Spannungsminderung:

Ich hatte das Motorrad genommen, eine kurvenreiche Strecke gewählt. Begleitet von Sonne, blauem Himmel hinter herbstlich gekleideter Landschaft. Verstand, Gefühlsbrei und Körper sind abgelenkt von der Fülle der Sinneseindrücke und den kognitiven Anforderungen. Willkommen bin ich bei meiner Mutter, was hilft, das Gefühl dazu auch zu finden. Sie freut sich. Also findet meine Freude vielleicht auch leichter auf die Bühne.

Ich: „Es geht mir nicht gut…. und ich kann Dir nicht sagen, warum.“

Sie: „Ja, Du hast doch gar keinen Grund…“

 

Es traf mich wie ein Schlag: „Stell‘ Dich nicht so an! Du hast keinen Grund, also lasse es gefälligst: Hör‘ auf zu jammern. Dein Gefühl ist falsch. Du bist nicht richtig. Mit Dir stimmt was nicht! Nimm‘ Dich nicht so wichtig. Du bist nicht wichtig.“ und „Ich kann Dich nicht verstehen. Du bist verrückt und einfach nicht annehmbar, wie Du bist.“ zusammengefasst: „Du bist Schuld.“

Aber das hat SIE nicht gesagt. Es waren meine inneren Kritiker!

Ich verstand, zu überprüfen. Ihre Aussage war mitfühlend, nicht anklagend gemeint. Es war mein Missverständnis, das ich selbst erst jetzt richtig verstehe…

Ich kann ihr nicht sagen, warum es mir hier und heute schlecht geht, weil dann unvermeidlich Schuld im Raum stände als Kennzeichen meines Familienerlebens. Ich kann Schuld noch nicht loslassen, weil ich nicht will, dass sie andere belastet. Ich bin unterwegs, anzuerkennen, dass Schuld, die ich loslasse, gar nicht genommen werden muss… es steht den Menschen frei, was sie nehmen. Ich darf – in fast vollkommener Theorie erfasst – mich unschuldig fühlen. Und: Ich bin existenzfähig OHNE Schuld…

Und einen Grund für mein mieses Erleben im Hier und Heute gibt es tatsächlich nicht, da hätte meine Mutter wirklich völlig recht, selbst wenn sie es so gemeint hätte.

Ursachen im Wurzelwerk unserer menschlichen, geographischen, historischen, familiären und ganz individuellen Geschichten mag es geben. Ich kann Verständnis aufbringen und versuche, zu begreifen. Glaube aber noch, irgendetwas (tun, nehmen, greifen, stehen, lassen) zu müssen, um… zu… ja was auch immer.

Das ist es ja gerade 🙂

Ich freu‘ mich auf Dich

„Ich freu‘ mich auf Dich“

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich den Zusammenhang erspürte zwischen diesen Worten und…

…meinem Gefühl der Schwere, der Unzufriedenheit, des unbändigen, maßregelnden Getriebenseins.

„Warum denn nur?“ wütete der Widerstand.

Wie so oft gab ich dem Getriebensein auf einem Wanderweg Raum. Und ich weiß noch genau die Stelle, an der ich dort zum Stillstand kam. Es war exakt in dem Moment, als ich das Band zwischen „Ich freu‘ mich auf Dich, Karin“ und der bedrückenden Haltlosigkeit erkannte.

Tränen kullerten als Erkennungszeichen einer alten, tiefen Wahrheit.

Diese Erkenntnis möchte ich hier teilen mit Euch, von denen ich die Worte schon so oft gehört habe.

„Ich freu mich auf Dich“


Es kann nicht wirklich wahr sein…

Ich kann es nicht glauben. Das ist schlimm und tut weh. Und es kostet immer einen Umweg im Denken: „Karin, glaube es. Du hast keinen Grund, Aussagen anderer zu entwerten. Wenn sie es sagen, ist es Teil ihrer Wahrheit und somit bist Du Teil der Freude. Und das ist wunderschön. Auch wenn Du es im ersten Schritt nicht glauben kannst.“

„Wenn jemand sich auf Dich freut, musst Du aber…“

Nicht nur mich so benehmen, das das auch so bleibt… zusammenreißen, nach den Bedürfnissen anderer schauen, eigene ausblenden…

Es ist also anstrengend, wenn sich andere auf mich freuen.

Und:

„Du musst Dich jetzt aber auch freuen!!!“

befiehlt es im Hintergrund.

„Ich kann aber nicht.“ wimmert es aus dem All der Tiefe. Und das hat seinen Grund…

In den ersten Jahren meines Lebens wuchsen wir in einem Mehrfamilienhaus auf. Unter uns lebte ein altes Ehepaar. Ich habe sie als abweisend in Erinnerung. Wir durften in der Wohnung nicht rennen. Wir durften nicht laut sein. Auch nicht auf der Wiese hinter dem Haus. Wir mussten leise sein. Wir durften nicht stören. Laut sein in jeder Form störte – nicht nur die Nachbarn, sondern auch den Vater. Er kam von der Arbeit und wollte auf der Couch schlafen. Es störte auch die Mutter. Sie hatte oft Kopfschmerzen. Laut sein macht die Kopfschmerzen schlimmer. Laut sein tut der Mutter weh. Mir wurde das Ausleben von Freude verboten. Freude ist nicht erwünscht. Freude ist falsch. Ich bin falsch, weil ich sowas wie Freude habe.

Ich sehe darin die Wurzel. Noch heute fällt mir das Freudhaben schwer. Und Spaßigsein bedarf einer großen Portion situativen Vertrauens in Ort und Mensch.

(Manchmal, aber heutzutage auch nicht mehr sicher zu erwerben in Form von zu mir genommenen alkoholischen Getränken)

Du musst es schwer haben und leicht nehmen: Anders sein.

Noch im Nebel, nicht in Gänze zu betrachten, aber für mich existent ist der familiäre Einstellungssatz: „Wir fühlen uns grundsätzlich von anderen als schlecht bewertet und müssen – uns (und denen) – ständig beweisen, gut genug zu sein“. Das bringt eine Schwere ins Sein. Aber nicht nur das, sondern auch ein „Du musst es schwer haben und leicht nehmen, also: Anders sein“. Wieder ein Erwerben- und Verdienenmüssen der Freude, die deren schlichte Existenz und somit das gleichzeitige Leichthabendürfen mit Schraubzwingen begreift.

Also:

Das innere Kind fühlt sich grundsätzlich falsch. Es muss „anders sein“. Es darf sich nicht freuen. Es muss sich zusammenreißen. Es muss aufpassen. Es hat Angst vor Zurechtweisung und Strafe.

Die äußeren Kritiker (meine damaligen Eltern) haben Angst, die Wohnung zu verlieren… von den Nachbarn beschuldigt zu werden. Regeln zu verstoßen. Müssen aufpassen, das nichts passiert… sind genervt vom Lärm, den Anforderungen des Alltags, der eigenen Überforderung, der Unfähigkeit, sicher und liebevoll im Umgang mit den damals zwei Kindern zu sein…

Die inneren Kritiker haben schon oft erlebt, das das Kind verletzt war und von den äußeren Kritikern mit Worten und Taten zurechtgewiesen wurde. Es wurde oft angeschrieen. Irgendwas macht es immer falsch und die inneren Kritiker müssen arg aufpassen, das sich das Kind so benimmt, den äußeren Kritikern alles recht zu machen. Sie befürchten, das Kind könnte wegen Fehlverhaltens verstoßen und zurückgelassen werden. Todesurteil für ein Wesen, das nur im Leben sein und sich in seiner Welt entdecken will, sich aber nicht selbst schützen und versorgen kann.

OK. Soweit.

Ich habe gehört, dass sich jemand auf mich freut und das ist wunderschön. Ich lasse diese Freude über das Gehörte zu. Ich als Mensch habe in meiner Kindheit ein Schema entwickelt, das mir Freude an sich suspekt macht und mir zudem das dem Gefühl entsprechende Ausleben von Freude verbietet.

Ich weiß heute, dass ich damals meinen Eltern als Beschützer nicht trauen konnte. Das damalige Misstrauen ist heute nicht mehr angemessen. Ich bin in Sicherheit. Ich darf neue Erfahrungen machen. Habe aber Verständnis für mein inneres Kind. Kann sein, das es immer wieder Rückzug braucht. Ich werde versuchen, auf meine inneren Dialoge zu hören. Pausen einlegen, Wahrnehmung überprüfen und das Gefühl der Freude zumindest wahrnehmen, wenn ich sie vielleicht auch noch nicht „artgerecht“ ausleben kann 😉 . Und wenn Traurigkeit hoch kommt, ist auch diese verständlich, denn sie gehört zur verbotenen Freude aus Kindertagen. Mit der heute erlebten Freude, den dazugehörigen Menschen und der Situation hat sie aber gar nichts zu tun. Alles zusammen ist richtig, wie es ist.

Somit:

Ich packe meine Sachen und fahre morgen zu Dir, die sagt, das sie sich auf mich freut und darauf, mit mir Zeit zu verbringen und zu teilen.

Du freust Dich auf mich.

Ja: Unglaublich! Aber erfahrbar.

Boah ey!!!

Soll heißen: Ich freu‘ mich.

Nicht tobend durch die Räume, laut lachend hüpfend und schreiend. Aber so wie Karin, hier und heute.

Vorsichtig schön.

 

Lektion: „Respekt“

„Irren ist menschlich“ heißt ein Standardwerk in der Fachliteratur für Menschen, die mit psychiatrisch Erkrankten arbeiten. Damals, in meiner Vorbereitung zu meinem Krankenpflegeexamen (1989), machte mich Brigitte darauf aufmerksam und weckte meine Neugierde mit der Aussage, Erkrankungen seien darin als ‚Landschaft‘ beschrieben. In meiner Fachkrankenpflegeausbildung Anfang der Neunziger galt es als „Die Bibel“ und wurde im stundenintensiven Fach „Psychiatrische Krankenpflege“ intensiv genutzt. Leider hatte ich nie den Eindruck, den Autoren in ihrer Tiefe der Bilder wirklich folgen zu können. Vermutlich saß ich selbst zu tief drin oder war zu nah dran – wie man es sehen will – und verstand es es deshalb nicht wirklich, weil ich hätte erstmal auftauchen müssen, bevor ich mich dem Inhalt mit klarer Sicht annähern kann. Vielleicht aber hatte ich einfach zu wenig Erfahrung. Egal.

„Ich verstehe Dich sowieso nicht und die Erinnerung daran tut mir weh.“ waren wohl die Gedanken, mit der ich schon vor einigen Jahren leichten Herzens mein Exemplar aus dem Regal geworfen habe.


„Naive Landschaftsmalerei“ könnte ich heute meinen letzten Beitrag betiteln. Erfasst mit dem Blick aus dem sicheren Korb eines schwebenden Ballons. Nicht unwahr deshalb. Beruhigend sogar. Aber vergänglich…

Zitat: „Sie (die „Leere“) darf bleiben, wie sie ist. Neben mir gehen, wie ein Schatten. Oder fern sein wie eine gewiss in und mit mir lebende, aber gerade unsichtbare Wesensart.“

Ein ungesicherter Krater in übersichtlicher Landschaft ist leicht auszumachen.

Ein Schatten folgt brav, ist gezähmt.

Ein gerade unsichtbares freilebendes Wesen ist weit weg, berührt nicht…

 

„Wahr-nehmen. Nicht wahr träumen, Karin.“

ja ja….

 


Die Landung des Ballons war sicher deutlich spürbar und ausgestiegen bin ich wohl auch. Mein Bewusstsein aber wollte nicht mit, machte sich selbständig und blieb noch ein Weilchen im Land der Träume.

Sie ist mir nach wie vor fremd, diese Landschaft. Es gibt nicht nur Weite, Leere, Sanftmut, Stille und Unberührtheit.

Wenn keine Aufführung ist, ist die Bühne überschaubar.

In einen Krater, den man aus der Ferne sieht, fällt man nicht sofort rein.

Scheint die Sonne, ist der Schatten zu sehen.

Wenn der Chor schweigt, kann der Dirigent schlafen.

 


Auf dem Stundenplan stand: „Respekt“.

Und vermittelt wurde der Inhalt mit einem Angriff. Mit einem Auftritt von ihr, „I.“ (Wer war das noch? ⇒ Link in weiteres Browserfenster zum Beitrag „Petersilie verrücken, Juni 2018), der Wertvernichtungsdiva, bzw. dem Hurricane, der glaubt, einen Haufen Mist wegfegen zu müssen.

Sie kam in Gestalt der „selten schöne Art Wesen“ und griff mich an wie ein in seiner Landschaft frei und sich lebendes Raubtier.

Egal, ob sie glaubt, der Misthaufen habe die Höhe des Erträglichen erreicht und kein Wesen in dieser Landschaft sorge sonst ernsthaft für den Abtrag.

Egal, ob sie einfach Hunger hat, und vielleicht gar nicht mich meint. Einfach als Wesen in dieser Landschaft lebt und ihrer Lust folgt, sich als Laune der Natur auszuleben.

Es ist, wie es ist: Diese fremde Landschaft ist gefährlich und ich kenne mich in ihr noch nicht aus.

Ich bin aufgebrochen in diese Landschaft.

Zurück will und kann ich nicht.

 


So kann mein kommender Klinikaufenthalt ab Mitte November, in der in einem achtwöchigen Programm sämtliche Module des DBT Therapiekozeptes (Hintergründe und Fakten/Einführung in das Skillstraining/Achtsamkeit/Stresstoleranz/Umgang mit Gefühlen/Zwischenmenschliche Fähigkeiten/Selbstwert/Umgang mit Sucht) vermittelt werden sollen, vielleicht eine Art „Survivaltraining“ in dieser Landschaft sein, die und in der ich bin.

 


Jedenfalls bin ich gespannt auf die inzwischen 24. Auflage des Werkes „Irren ist menschlich“.

Nicht auftauchen, nicht Abstand nehmen müssen.

An meinen derzeitigen Ort liefern lassen 😉

Mal sehen, was und wie es heute ankommt. Und wer alles da ist, um es in Empfang zu nehmen.

Weit weg in Sicherheit?

 

Bild 1: Gefangene Leere

Immaginationsübungen sind ein mir sehr dienliches therapeutisches Mittel. Sie lassen Bilder aufsteigen, setzen sie in Verbindung mit Gefühlen und eventuell erlebten Situationen. In sicherer Distanz zum Drama der Vergangenheit können mithilfe von therapeutischer Begleitung und Anleitung neue Sichtweisen, Denkansätze, Lösungsstrategien und letztenlich Verhaltensweisen entwickelt werden.

Es ist wohl kein Geheimnis, das sich mir Bilder in vielerlei Beziehung sehr hilfreich anfühlen.

Ingrid „führte“ mich an meine Leere, ließ mich zunächst vorsichtig hineinblicken, dann hineinstürzen, holte immaginäre Helfer, die mich auffingen und mich auf meinem Weg hinaus begleiteten. Dann ließ sie mich einen stabilen Zaun drum herum bauen. Einen, der ganz sicher hält. Ich musste und konnte selbst kontrollieren, dass er verlässlich und sicher ist. Und dann sollte ich den Abstand vergrößern. Immer weiter weg, so weit, bis ich in Sicherheit sei und sich der Abstand gut und richtig anfühlt. Nachfühlen. In meiner Vorstellung war da eine Bank, auf die ich mich setzte, um in Ruhe zu atmen. Ich sah, dass es noch viel mehr gab, als das Ding da in der Ferne, vor dem ich mich sicher fühlte. Viel Raum war da, den man nicht sehen kann, wenn man auf etwas stiert.

Die Hausaufgabe bestand im Anfertigen eines Bildes.

Die Rückseite trägt eine Notiz:

„Sommer 2011 / weit weg in Sicherheit? / Gibt es auch einen anderen Blick?


Bild 2: Geschützte Weite

Zur Zeit bin ich eigentlich immer im oder in der Nähe des hiesigen Naturschutzgebietes „Am Weinberg“ unterwegs. Es handelt sich um einen ehmaligen Truppenübungsplatz der Bundeswehr. Der Boden ist von jahrzehntelangem Panzerfahren verdichtet, sodass viel wächst, was sonst nicht darf. Regelmäßiger Pflegebesuch der ansässigen Schafherde schützt die heutigen Trockenwiesen. So kann der Blick bei aller sonstigen Belassenheit in viele Richtungen weit schweifen. Einerseits trifft er immer wieder den Düns- andererseits den Feldberg. Hinter Lahn und B49 ist das Kloster Altenberg. Und dann ist da noch Wetzlar mit der Ruine Kalsmunt und dem Krankenhaus auf seinen Erhebungen thronend, dahinter der Stoppelberg. Im Herbst leuchten die bunten Hecken und Sträucher, die knallroten Hagebutten und die vertrockneten Distelblüten. Champignons brechen sich durch den harten Boden. Und oft bücke ich mich nach einem Halm violett blühenden Thymians, der dank meiner Phantasie noch würziger duftet und schmeckt, als er wild ist. Gestern gab es noch mehrere Züge Kraniche zu hören und sehnend ziehen zu lassen. Dazu der blassblaue Himmel, Bühnenbild des zur Zeit allabendlich an lodernde Glut erinnernden Sonnenuntergangs.


Kein Gebäude auf beiden Bildern. Damals auf dem Bild dachte ich, wie wunderbar weit alles sei: So viel Platz zum Bauen bzw. Erschaffen. Gestern, im Naturschutzgebiet, dachte ich: Wie wunderbar es ist, dass dort kein Platz zum Bauen ist!


Bild 3: Träume vom Wahrwerden

Und wenn ich so laufe, mein Hirn sich von Sonstigem entspannt, füllt es sich sogleich von Neuem. Es webt mit irgendwelchen Spinnereien wunderschöne Netze. Sie spinnen im Schimmer des seeligen Loslassens Träume von ihrer Welt ins Land des Wohmöglichdochwahrwerdenoderseinkönnens. Netze, die sich über die doch unheilbaren Wunden legen, sie zu stillen scheinen können. Der Glaube, es könnte heilen, noch in dieser Welt. Ich versinke immer wieder darin und davon. Es federt so sanft, scheint tragen zu können. Und fühlt sich so wunderbar unwirklich wahr an, als sei ich in der und die Bar der Wunder zugleich.

Bis dort, wo ich wieder ankomme.

Die Netze des Hirns sind nicht lange haltbar. So wenig in der Wahrheit, wie in der Phantasie.

Mein Hirn versucht sich immer wieder im Unmöglichen. Kein Wunder, das ihm sonst so wenig möglich ist.


Gibt es auch einen anderen Blick?

Ja. Nicht nur den damals so wundersamen Blick in die Weite, weg vom Krater der Leere. Sondern auch den in die Nähe: Muss ich mich wirklich vor der Leere schützen? Lässt sie sich fangen wie ein Wildtier? Will ich das? Muss ich sie vielleicht noch mehr vor mir schützen als umgekehrt? So wie eine selten schöne Art Wesen?

Hirn, lass‘ ab. Ich will nichts in dieser Landschaft errichten, nichts vernichten, nichts fangen oder frei lassen. Es ist nichts dergleichen von Wert. Denn dann gäbe es auch Unwert (und der wäre automatisch ich). Will nicht drinnen, nicht draußen, nicht Käfig, nicht Weite oder Boden, nicht Kämpfer oder Opfer sein.

Meine Leere ist nicht zu füllen, nicht zu stillen, nicht zu heilen. Weder von außen, noch von innen. Ich kann nichts tun. Ich brauche nichts tun. Sie darf mich begleiten. Sie darf bleiben, wie sie ist. Neben mir gehen, wie ein Schatten. Oder fern sein wie eine gewiss in und mit mir lebende, aber gerade unsichtbare Wesensart. Gemeinsam ein Ganzes sein. Und jeder seins.

Wahr-nehmen. Nicht wahr träumen, Karin.

So viel zur Theorie.

Ich will sein lernen, nicht mehr sein zu wollen.

Wenn ich (etwas) sein will, bin ich es nicht.

Ich bin…

Ich bin. Basta.

 

 

Glocken und Quellen

Gerade war es wieder so weit:

Das Altenheim gegenüber hat einen Sicherheitsdienst beauftragt. Er fährt nachts mehrfach, aber immer zwischen 2 und 3 Uhr, mit einem PKW vor. Die Tür geht auf. Manchmal klingt das Radio bis zu mir hinauf. Der Angestellte verlässt das Auto, die Tür geht zu. Nach dem kurzen Kontrollgang öffnet und schließt sich die Türe wieder, der Motor springt an und ein paar Sekunden später sind die Geräusche des wegfahrenden Fahrzeugs aus dem Vernehmungsbereich meiner Ohren verschwunden. Alles in allem keine schöne Melodie. Schlicht eine zuverlässige, wiederkehrende, störende wie willkommene Sequenz meiner altbekannten Nachtmusik.

Und die Sanftheit der Verärgerung darüber erinnert mich an ein anderes ihrer Bühnenauftritte in heutiger Zeit. Früher war das anders…

In den letzten Jahren meiner Arbeitstätigkeit hatte ich mich zumeist in den Nachtdienst geflüchtet. Morgens, sofort nach dem Heimkommen, meist so gegen 7:00 Uhr, fiel ich komatös ins Bett, und wachte, nach manchmal mehreren Unterbrechungen, mich gequält fühlend und unausgeschlafen, aber meist erstaunlich pünktlich um 12:30 Uhr, auf. Meine Tagesaktivitäten, welche überwiegend aus Fernsehen und Essen bestanden, versuchte ich bis 16:30 Uhr zu beschränken, um dann nochmal etwas Schlaf zu finden. Meistens kam ich dann aber nicht zur Ruhe, sondern zum Gedankenkreisen.

Und jeden Freitag um 18 Uhr erklang es. Erfolglos habe ich soeben googelnd versucht, herauszufinden, welchem Kirchturm dieses Glockengeläut eigentlich entspringt. Aber es ist auch nicht wichtig. Jedenfalls landete es zielsicher in der vordersten Front des Zentrums meiner Aufmerksamkeit. Nein, nicht wirklich ist und war es musikalisch unerträglich oder von übertriebender Lautstärke. Noch läutete es länger als 10 Minuten. Es hinderte mich dennoch ausdauernd, meist vollendet, am Einschlafen, bohrte sich, manchmal schon vor dem ersten Schlag, zielgenau in die Quelle meines Zorns. Ich regte mich zwingend, heftig, gründlich und über dieses Geräusch auf. Und gleich anschließend darüber, dass das so ist. Ich konnte einfach nicht mehr davon ab- und mich infolgedessen auf das Einschlafen einlassen.

Was lässt mich jetzt wachen, was aufhorchen, was regt zu diesem Beitrag an? Was will ich fassen, begreifen, zur weiteren Begutachtung niederlegen und, vielleicht einstweilen und immer wieder verstehen können?

Die Glocke läutet noch immer freitags um 18 Uhr. Und der Sicherheitsdienst durchquert meine Nachtmusik. Die Quelle des Zorns aber hat vom Druck abgelassen und erlaubt einen Blick tiefer.

Egal ob wütender Zorn über sinnlosen Widerstand oder Sanftmut durch verlässliches Kommen und Gehen. Nicht wichtig ob Enge durch mikroskopische Konzentration auf ein Geräusch oder gelassene Annahme durch Ausweitung des Blickes auf die Gänze der Nacht mit all ihren Gewohnheiten.

Es ist die Zuverlässlichkeit, die mich rührt. Und dabei ist es völlig egal, zu was: Zorn oder Sanftmut – völlig egal. Ich kann mich darauf verlassen, das es immer so ist. Das die Bindung hält.

Vielleicht ist es auch so mit dem Essen, der Arbeit und dem Schuldgefühl. Oder beispielsweise mit dem Körper und der Scham? Der Tiefe der Verzauberung, die der Geruch von Pferden und Heu auslöst?

Empfinden von verlässlicher Verbundenheit.
Womöglich ein Gefühlsbonbon der Geschmacksrichtung „Urvertrauen“?

Befriedigen vom Bedürfnis nach Sicherheit, dem Nenner aller Wesen, durch alle teilbar, Teilsein von allem Leben.

5:03 Uhr. Die so unwirkliche wie mir gerade willkommene Glocke der Schlafstörung schwingt leise aus. Ich versuch’s nochmal…

zur Zufriedenheit

„Was steht heute bei Dir an?“ fragt sie mich.

Keine Termine.

Strahlend blauer Himmel.

Keine körperlichen Einschränkungen.

Motorrad, Auto, Fahrrad vorhanden und einsatzbereit.

Ich gehe spontan in mich und stelle fest:

„Ich glaube, jammern, mich selbst bemitleiden, erniedrigen und mit dem Verzweifeltsein hingebungsvoll verschmelzen steht auf dem Plan…“

Aber auch das wird mir nicht in Vollendung gelingen.

Zuversicht.

 

 

 

Haftnotiz 20%

11.10.2018 8:42 Uhr

Jetzt. Sozusagen. Ist schon wieder vorbei.

Sind sie sich ähnlich? Das Jetzt, das es nicht mehr ist, und das Jetzt jetzt?

Egal.

Das Therapieprogramm DBT beinhaltet das Führen einer Spannungskurve. Gerade bin ich bei ca. 20% würde ich sagen. Das ist ein Entspannungsgrad, den ich sehr selten empfinde. Es ist ein Moment, in dem ich mich weitgehend in Ruhe lassen kann. Ein Moment, der so selten ist, das das Feststellen seiner Existenz schon zum Ansteigen der Spannungskurve, also zu seiner Vernichtung, führt.

Auch der Genuss eines Cappuccinos entsteht im Vergehen.

Wohl möglich aber bleibt eine Erinnerung. Gerade schreibe ich eine Haftnotiz für’s Hirn.

Ich sitze im Bett. Ich kann den Himmel sehen. Wolkenlos blau zeigt er sich mit Weite und Aussicht auf einen Schönwettertag.

Der Lärm der Baustelle nebenan erlaubt mir noch offene Fenster. Aber die Einfachverglasung in uralten, schön schmalen Holzfenstern kann ihm ja auch geschlossen nicht viel entgegenhalten.

Die Bedeutung dessen, was sich zugerufen wird, verstehe ich nicht. Sie gehen ihrer Arbeit nach.

Lohn gegen Arbeit. Das ist der Deal mit dem Chef. Was will er haben? Wirklich? In welches Nest setze ich mich – mehr oder weniger bewusst? Was will ich geben? Was will ich von ihm? Was soll er mir geben? Außer Geld?

Aber das ist ein anderes Thema. An das ich mich noch nicht mal vorsichtig ran tasten will. Nicht wirklich.

Ich habe heute Nachmittag Termine. Und sollte mich doch jetzt bewegen, statt gemütlich unter der warmen Federdecke zu sitzen bei Tee und Gelassenheit.

Worauf habe ich wirklich Lust? Kann ich mich lustig machen? Geht Lust ohne Unlust? Kann ich mir erlauben, jetzt Lust zu spüren und dieser, meiner Lust nachzugehen?

Nein, ich habe keine Lust auf inneres Genörgel. („Du willst nur fliehen vor uns Nörglern, Du solltest doch eigentlich… dies das besser sicher tun machen“)

Aber ich habe Lust auf’s Momente sammeln, halten und staunend betrachten.

Mal sehen, wo ich noch einen Moment des Nörglers finde – mitten im Einfachsein.

Macht er sich da etwa gerade verlustig? Ohne mich?

Ich geh‘ mal gucken. Vielleicht können wir was zusammen erleben?

Ich ihn und er mich da sein lassen. Also

Ganz und einfach sein = Ganzeinfachsein.