Wohin?

Die Stimmen im Flieger sind inzwischen verstummt. Manche aber, so wie ich, können einfach nicht schlafen.

Mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf. Wie soll es jetzt weiter gehen? Ich kann mir nicht vorstellen, in unserer Wohnung zu sein, dort täglich zu schlafen, den üblichen Alltag zu leben. Ich schäme mich, schon alleine dafür, einen so großen Plan gehabt und nun schon abgebrochen zu haben, jetzt schon wieder hier zu sein.

Es fällt mir schwer, „Ja“ zu ihm, meinem Weg zu sagen, der so groß oder klein ist wie alle Wege, er ist, wie er ist.

Schnelle, kaum durchdachte Pläne eilen mir durch den Kopf: Dem Jakobsweg durch Frankreich zu folgen, Brigitte in Rostock zu besuchen und von dort zurück zu laufen. Weg, nur weg, nur nicht heim!

Warum? Will ich überhaupt laufen oder nur weg? Fliehen vor der Scham?

Für heute komme ich bei meinem Bruder unter, worüber ich sehr froh bin. Er holt mich am Flughafen ab. Schön zu wissen, nach so langem Flug nicht nur wieder am Boden, sondern auch in seinen Armen anzukommen.

Meine Scham…

Charlotte ist eine ganz alte Freundin. Sie steckt voller Leben und hat ein durch und durch vereinnahmendes Wesen. Sie weiß, wie viel Kraft sie hat und glaubt, mich beschützen zu müssen. Dabei geht sie manchmal einfach zu weit, aber ich lasse ja gerne über mich bestimmen.

Ich kenne sie schon so lange und bin immer wieder in ihren offenen Armen versunken. Ich vertraue ihr und weiß doch, dass ich es lernen muss, sie mit ihrem Beschützerinstinkt im Zaum zu halten. Ich weiß, sie meint es nur gut.

Charlotte trennt mich gerade von meinen Freunden. Die würden so ein Ding machen wegen der paar Tage PCT. Sie meint, ich habe doch eben mal wieder versagt und meint, ich solle mich besser verstecken. Größe sei nicht mein Ding, das wisse ich doch. Und ich wisse doch auch, sie stünde mir gar nicht zu. Ich fiele doch immer wieder auf den Boden und das könne ich vermeiden, wenn ich klein bliebe. Wenn, dann müsse ich erst mal was verdienen, was wirklich groß und ganz sei und sich richtig anfühle. Und das sei bei meiner derzeitgen Verunsicherung ein lächerlicher Gedanke.

Zum (Groß-) Sein gehört, für sich Verantwortung zu übernehmen. Spüren können, was sich richtig anfühlt, und dazu stehen. Zu Entscheidungen stehen. Ja, und da gebe ich ihr Recht: Disziplin kann ich einfach nicht aufbringen.

Charlotte ist, wie sie ist. Ich kann mich auf sie verlassen. Aber vielleicht bringe ich sie ja dazu, sich mal auszuruhen.

Dann habe ich auch wieder mehr Luft zum Atmen. Und kann das Leben und meine Freunde wieder spüren und sehen.

Entscheidung

Dass wir uns kennen würden, wäre übertrieben gesagt: Als alter Freund einer Freundin hatte ich Günter ein Mal vor vielen Jahren in Köln getroffen.

Er lebt in Vancouver und nach ein paar Emails bot er sich nicht nur an, mich am Flughafen abzuholen, sondern sich auch als Gesprächspartner zur Frage, ob ich den Flug nach Deutschland nochmal absage und zurück auf den PCT gehe. Es wurden ein paar Biere mehr.

Um ca. 23:45 Uhr rief ich bei Condor an und erfuhr, dass ich tags zuvor, trotz mehreren Nachfragen, eine falsche Auskunft erhalten hatte und fliegen muss, so ich den Flug nicht verfallen lassen möchte.

Ich weiß das so anzunehmen.

Wir sind noch durch ein paar Kneipen gezogen, bis ich irgendwann gegen 4 Uhr wieder am Flughafen war und auf ein paar Stühlen noch zu einer kleinen Portion Schlaf kam.

Oregon

Aus dem Fenster der Sitzreihe auf der anderen Seite des Gangs habe ich verschneite Berge gesehen. Zu gerne wüsste ich, in welchem Staat bzw bei welcher PCT Meile wir uns befunden haben.

Ich habe gerade herumgestöbert, um mich den kommenden Strecken ein bisschen anzunähern. Der PCT verläuft ca.1200 Meilen durch Oregon. Das Profil scheint nicht sonderlich bergig zu sein, stellt aber an die Logistik bestimmte Aufgaben. Die Einkaufsmöglichkeiten sind begrenzt und es gilt zu planen, für wieviel Tage ein vorausgeschicktes Päckchen die Verpflegung enthalten muss. Genau kann man das natürlich nie wissen, wie viele Meilen man so am Tag schafft. Aber es ist ein schönes Ziel, mit möglichst leichtem Gepäck laufen zu können. Reicht hingegen das Essen nicht aus oder ist es zu abwechslungslos, schlägt das auf die Stimmung. Pakete verschicken ist zum einen nicht billig (ca. 13 Dollar pro Paket incl. Verpackung), zum anderen braucht es Zeit zum Packen und Abholen, wobei auch die Öffnungszeiten zu beachten sind. So ist es nicht wirklich eine Option, sich in kurzen Abständen zu versorgen.

Ich habe bei mir bis zuletzt einen Widerwillen gegen die Einkauferei verspürt. Nie wusste ich, was ich eigentlich will, was genug ist, oder zu wenig. Oft sind mir Dinge einfach zu schwer. Und wer weiß schon, was er in einer Woche gerne essen würde?

Ich merke gerade, dass ich ständig in der Vergangenheitsform schreiben will.

Nein, Lust verspüre ich beim diesem Thema „Planung, Vorbereitung, Einkaufen“, nicht. Es ist mir lästig und mühsam.

Wie sich der PCT landschaftlich weiter entwickelt, würde ich schon gerne sehen…

Leicht verträumt

Ich fühle mich, als hätte mir jemand ganz liebevoll eine leichte, genau richtig warme, schützende Decke umgelegt.

Ich fühle mich so wohl in ihr.

Das mit der zärtlichen Decke seid Ihr gewesen und sie besteht aus Euren lieben Gedanken, Rückmeldungen, Grüßen, Mutmachern, Bestärkungen. Eure Freude über meine angekündigte Rückkehr, die selbst für mich routinierten Kritiker keine Zweifel in Betracht ziehen lassen.

Die Decke ermutigt mich derart, dass sich mir schon wieder neue Fenster öffnen, Aussichen, wenngleich auch verträumt…

„Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.“ (das Zitat wird Antoine de Saint-Exupery zugeschrieben)

So ergeht es mir mit nur einem Satz aus einer Email von Thomas:

„Cascade Locks ist ein gutes Ziel, die Gegend dort wird Dir gefallen, erinnert ein bisschen ans Rheintal.“

Damit hat er meine Phantasie geweckt: Wie mag es dort aussehen? Was denkt er, was mir gefällt? Vielleicht ist es wunderschön dort?

Ich stelle mir den blauen Himmel vor und einen ganz leicht ansteigend verlaufenden, festen Weg, der sich an den mit Felsen durchbrochenen, aber üppig bewachsenen, steilen Hänge eines Tals entlang windet. Vielleicht ist ein Fluss zu sehen. Farblich bestimmen die eher dunklen Grüntöne der Bäume und Büsche die Aussicht. Aber ab und an entdecke ich wieder die bisher so nicht gesehene Blütenfarbe einer kleinen, unscheinbaren Pflanze am Boden. Käfer überqueren eilig den Weg, der unter meinen Schritten knirscht. Langsam verändert sich die Landschaft, das Tal schließt sich, der Fluss ist allenfalls noch zu hören.

Wie mag der Weg weiter verlaufen? Und wie erst in 100 Meilen?

Ja, so denke ich:

Blauer Himmel, 20°C, trockene, nicht zu milde Nächte, kein Schnee, keine Stechmücken und der Rucksack darf auch nicht zu schwer sein… ständiger Internetempfang und entspannte Gesellschaft, in der ich mich sicher und wohl fühle.

Ich weiß: Es kann auch ganz anders aussehen.

Und was passiert, wenn die zarte Decke von meinen Schultern rutscht? Oder ich sie nicht mehr spüren kann?

Ich habe noch 10 Stunden und 47 Minuten Zeit, meinen morgigen Flug von Vancouver nach Frankfurt zu stornieren.

Nach Hause kommen

Mein Zuhause:

Da, wo ich willkommen bin. Wo ich einen Platz habe. Da, wo ich hin will, um mich ganz, richtig und in Ordnung fühlen zu können.

Mein Zuhause ist bei Euch, meine lieben Freundinnen und Freunde, Lebensbegleiter und Lieblingsmenschen.

Bei Euch, die Ihr mich oft besser lieb haben und sein lassen könnt, als ich es kann.

Das Flugzeug landet am Freitag.

Ein Teil von mir sitzt drin.

Ich komme nach.

Irgendwann.

Ich freue mich jetzt schon auf Euch – das wird eine Freude!

Und ich freue mich unbeschreiblich darauf, wenn wir uns endlich – außer an den Herzen – auch mal wieder in den Armen liegen können.

Ich freu mich auf Euch!

Unser Lachen, Weinen, Schweigen, Beisammensein.

Ich komme….

Woanders.

Nun ist es passiert. Wie im Tunnel habe ich den Rückflug organisiert und gebucht. Starte morgen früh um 6 Uhr mit dem Bus und komme am 16. in Frankfurt an.

Habe mir keine Chance mehr gegeben, mich wieder einzufühlen ins Laufen auf dem PCT.

Die Gewohnheit ist weg. Die Vorstellung fremd.

Ich bin traurig.

Und, wie gewohnt, fühlt sich auch diese Entscheidung wieder so falsch an.

Aber ich brauche mehr Hilfe, als ich von den Menschen hier zu nehmen bereit bin.

Ich werde das Draußensein so sehr vermissen. Und das Draußenschlafen.

Aber ich konnte mich eben meiner Angst nicht stellen.

Es geht woanders weiter.

Genesung verschoben.

Oder eben: Ortswechsel verordnet.

Morgens…

…ist einfach meine beste Zeit.

Nach der deutlichen Abkühlung und dem Sturm in den Bergen gestern (hoffentlich war es für die Wanderer da oben nicht so schlimm, wie ich es mir vorstelle) ist die Luft heute angenehm frisch.

Genauso ergeht es mir mit dem Denken und Fühlen: Ich habe frische Ideen und die Angst ist wie die Dunkelheit – sicher da, aber woanders.

Es wäre gut, mit dieser Stimmung laufen zu können.

Bald vielleicht wieder!