Wieder im Wald

Kühl, frisch und sieben Uhr ist es, als ich die ersten Schritte mache.

Der Rucksack fühlt sich gut an, ist angenehm leicht. Er ist mir vertraut, aber wir Zwei passen gerade nicht zur Szene, denke ich mir.

Nicht nur das üppige Grün des Waldes, sondern auch die mehr oder weniger ebenen, oft schnurgeraden, breiten Wege wirken befremdlich auf mich. „Du bist verwöhnt“, sage ich mir, vom Geschlängel des PCT, seinen spektakulären Aussichten, ja, und irgendwie auch den Anforderungen. Ich fühle mich fast ein bisschen gelangweilt und frage mich, ob ich das schon Arroganz nennen soll.

Aber der Wald nimmt mir das nicht krumm und lädt mich ein, seine Schönheit neu zu entdecken.

So viele Vogelstimmen gleichzeitig habe ich in den letzten Wochen zum Beispiel nie gehört. Wunderschön! Und blühende Orchideen habe ich in deutschen Wäldern bisher auch zuverlässig übersehen.

Keine endlos wirkenden hügeligen Dürre- und Waldbrandwüsten, sondern bis auf den letzten Zentimeter (aus-) genutzte, fruchtbare Ackerflächen.

Die wildwüchsigen, farbenfrohen „Untermieter“ machen nicht nur mir, sondern auch Hunderten von Bienen Freude.

Nach ca. 22 km hatte ich mein Ziel erreicht.

Pünktlich zum Mittagessen!

Reise nach Hause

Nun ist der PCT ja Geschichte.

Ich werde hier trotzdem weiter schreiben in der Hoffnung, Ihr begleitet mich noch ein bisschen auf meinem Weg.

Die Reise soll mich nach Hause führen.

In das Gefühl, am rechten Ort zu sein, willkommen und genau richtig, so wie ich bin.

Ich erlebe es manchmal im Beisammensein mit Euch.

Aber vielleicht kann ich dieses unglaublich schöne Gefühl ja einladen, sich auch in mir einen Platz zu suchen.

Es einladen, sich breit und wohlig zu machen.

Weiter

Heute habe ich meinen Rucksack gepackt. Ein paar Dinge habe ich aussortiert, aber im Grunde genommen entspricht der Inhalt dem, was ich auf dem PCT dabei hatte. Natürlich ist der Verpflegugsbeutel sehr viel kleiner.

Und darin ist Vollkornbrot – sowas gibt es in den USA gar nicht!

In vier Stunden holt mich ein Minicar ab. Es fährt mich ins ca. 40 km entfernte Örtchen Taunusstein-Orlen.

Ich habe mir den Ort auf der Karte ausgesucht als erste Möglichkeit der Zersiedlung im Rhein-Main Gebiet zu entgehen.

Von dort aus möchte ich über Strinz Strinitatis, Panrod und Kirberg ca. 25 km zu meiner Mutter eine recht hügelige Strecke nach Hünfelden-Ohren gehen. Das sollte ich in einem Tag schaffen, auch wenn mir kein gutes Kartenmaterial zur Verfügung steht. Vor der ersten einsamen Campingnacht in freier Natur in Deutschland ist mir schon ein bisschen mulmig zumute, ich schiebe sie gerne noch ein Weilchen hinaus.

Als Begleiter wünsche ich mir die Leichtigkeit, die Freude, die Zuversicht, Milde und Klarheit. Kraft und Mut.

 

Rüsselsheim

Gestern hat mich mein Bruder Frank in Rüsselsheim mit offenen Armen empfangen. Ich bin wieder hier. Hier in „da“, wo man meine Sprache spricht.

Hier, wo meine Freunde leben.

In Rüsselsheim ist Hessentag, eine Art Volksfest. Es passt zu dieser irgendwie irrealen Situation, vor ein paar Stunden noch auf einem anderen Kontinent gewesen zu sein, sich jetzt in diesen Menschenmengen zu bewegen.

Körperlich anwesend, Teil der Menge und außenstehender Beobachter zugleich.

Frank und ich haben viel geteilt. Wir schenkten uns unsere Zeit.

Frank hat mir ein Fahrrad besorgt, sodass ich mich hier frei bewegen kann. Heute war ich im Ostpark, habe mich ins Gras gelegt und den Vögeln zugehört.

Vor ca. 46 Jahren stand hier „Radfahren und Enten füttern“ auf meinem Lehrplan.

Heute: „Da sein“.

Wohin?

Die Stimmen im Flieger sind inzwischen verstummt. Manche aber, so wie ich, können einfach nicht schlafen.

Mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf. Wie soll es jetzt weiter gehen? Ich kann mir nicht vorstellen, in unserer Wohnung zu sein, dort täglich zu schlafen, den üblichen Alltag zu leben. Ich schäme mich, schon alleine dafür, einen so großen Plan gehabt und nun schon abgebrochen zu haben, jetzt schon wieder hier zu sein.

Es fällt mir schwer, „Ja“ zu ihm, meinem Weg zu sagen, der so groß oder klein ist wie alle Wege, er ist, wie er ist.

Schnelle, kaum durchdachte Pläne eilen mir durch den Kopf: Dem Jakobsweg durch Frankreich zu folgen, Brigitte in Rostock zu besuchen und von dort zurück zu laufen. Weg, nur weg, nur nicht heim!

Warum? Will ich überhaupt laufen oder nur weg? Fliehen vor der Scham?

Für heute komme ich bei meinem Bruder unter, worüber ich sehr froh bin. Er holt mich am Flughafen ab. Schön zu wissen, nach so langem Flug nicht nur wieder am Boden, sondern auch in seinen Armen anzukommen.

Meine Scham…

Charlotte ist eine ganz alte Freundin. Sie steckt voller Leben und hat ein durch und durch vereinnahmendes Wesen. Sie weiß, wie viel Kraft sie hat und glaubt, mich beschützen zu müssen. Dabei geht sie manchmal einfach zu weit, aber ich lasse ja gerne über mich bestimmen.

Ich kenne sie schon so lange und bin immer wieder in ihren offenen Armen versunken. Ich vertraue ihr und weiß doch, dass ich es lernen muss, sie mit ihrem Beschützerinstinkt im Zaum zu halten. Ich weiß, sie meint es nur gut.

Charlotte trennt mich gerade von meinen Freunden. Die würden so ein Ding machen wegen der paar Tage PCT. Sie meint, ich habe doch eben mal wieder versagt und meint, ich solle mich besser verstecken. Größe sei nicht mein Ding, das wisse ich doch. Und ich wisse doch auch, sie stünde mir gar nicht zu. Ich fiele doch immer wieder auf den Boden und das könne ich vermeiden, wenn ich klein bliebe. Wenn, dann müsse ich erst mal was verdienen, was wirklich groß und ganz sei und sich richtig anfühle. Und das sei bei meiner derzeitgen Verunsicherung ein lächerlicher Gedanke.

Zum (Groß-) Sein gehört, für sich Verantwortung zu übernehmen. Spüren können, was sich richtig anfühlt, und dazu stehen. Zu Entscheidungen stehen. Ja, und da gebe ich ihr Recht: Disziplin kann ich einfach nicht aufbringen.

Charlotte ist, wie sie ist. Ich kann mich auf sie verlassen. Aber vielleicht bringe ich sie ja dazu, sich mal auszuruhen.

Dann habe ich auch wieder mehr Luft zum Atmen. Und kann das Leben und meine Freunde wieder spüren und sehen.

Entscheidung

Dass wir uns kennen würden, wäre übertrieben gesagt: Als alter Freund einer Freundin hatte ich Günter ein Mal vor vielen Jahren in Köln getroffen.

Er lebt in Vancouver und nach ein paar Emails bot er sich nicht nur an, mich am Flughafen abzuholen, sondern sich auch als Gesprächspartner zur Frage, ob ich den Flug nach Deutschland nochmal absage und zurück auf den PCT gehe. Es wurden ein paar Biere mehr.

Um ca. 23:45 Uhr rief ich bei Condor an und erfuhr, dass ich tags zuvor, trotz mehreren Nachfragen, eine falsche Auskunft erhalten hatte und fliegen muss, so ich den Flug nicht verfallen lassen möchte.

Ich weiß das so anzunehmen.

Wir sind noch durch ein paar Kneipen gezogen, bis ich irgendwann gegen 4 Uhr wieder am Flughafen war und auf ein paar Stühlen noch zu einer kleinen Portion Schlaf kam.

Oregon

Aus dem Fenster der Sitzreihe auf der anderen Seite des Gangs habe ich verschneite Berge gesehen. Zu gerne wüsste ich, in welchem Staat bzw bei welcher PCT Meile wir uns befunden haben.

Ich habe gerade herumgestöbert, um mich den kommenden Strecken ein bisschen anzunähern. Der PCT verläuft ca.1200 Meilen durch Oregon. Das Profil scheint nicht sonderlich bergig zu sein, stellt aber an die Logistik bestimmte Aufgaben. Die Einkaufsmöglichkeiten sind begrenzt und es gilt zu planen, für wieviel Tage ein vorausgeschicktes Päckchen die Verpflegung enthalten muss. Genau kann man das natürlich nie wissen, wie viele Meilen man so am Tag schafft. Aber es ist ein schönes Ziel, mit möglichst leichtem Gepäck laufen zu können. Reicht hingegen das Essen nicht aus oder ist es zu abwechslungslos, schlägt das auf die Stimmung. Pakete verschicken ist zum einen nicht billig (ca. 13 Dollar pro Paket incl. Verpackung), zum anderen braucht es Zeit zum Packen und Abholen, wobei auch die Öffnungszeiten zu beachten sind. So ist es nicht wirklich eine Option, sich in kurzen Abständen zu versorgen.

Ich habe bei mir bis zuletzt einen Widerwillen gegen die Einkauferei verspürt. Nie wusste ich, was ich eigentlich will, was genug ist, oder zu wenig. Oft sind mir Dinge einfach zu schwer. Und wer weiß schon, was er in einer Woche gerne essen würde?

Ich merke gerade, dass ich ständig in der Vergangenheitsform schreiben will.

Nein, Lust verspüre ich beim diesem Thema „Planung, Vorbereitung, Einkaufen“, nicht. Es ist mir lästig und mühsam.

Wie sich der PCT landschaftlich weiter entwickelt, würde ich schon gerne sehen…