Vorstellungskraft

von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs

Frühdienst. Die Kleidung von gestern geht nochmal. Arbeitsklamotten, staubig, aber bequem. Unten stehen die Gummistiefel. Ich stelle noch die Kaffeemaschine an, bevor ich rüber in den Stall gehe. Träge wedelnd begleitet mich der Hofhund.

Die Pferde schnauben aus tiefer Kehle – mir zu: Willkommen, Mensch!

Was für ein Gefühl… Willkommen, Gänsehaut!

Unruhe kommt auf. Routiniert öffnen meine Hände die Scharniere der Futtertruhe. Die Kelle verschwindet im Hafer. Eins, zwei, drei… Der Eimer leert sich in den Trog… gierig verschwindet der große Kopf des Kaltblüters darin, während sein Nachbar genervt mit seinen Hufen scharrt. Nichts dämpft mehr das Geräusch das erklingt, wenn schwerer Beschlag auf blank geriebenen Steinboden trifft.

Und dann das Malmen… wie sehr ich dieses Geräusch mag. Nein, ich bin nicht in Hektik – nur ist morgens einfach keine Zeit zum Lauschen. Das sanfte Rascheln des Heus entgeht meiner Wahrnehmung, wie so oft, fast gänzlich, aber sein Duft ist überwältigend. Schnell verstecke ich meine Nase im matt gewordenen Grün des letzten Sommers und atme tief ein, bevor die Morgenration mit einem Wurf in der Box verschwindet. Wenn das so gut schmeckt, wie es riecht… mmmh…

Die Ersten sitzen schon über ihren dampfenden Kaffeetassen. Der Chef weiß, was heute zu tun ist und verteilt die Arbeit. „Wir brauchen 30 Bund Radieschen – machst Du das?“

Mir wird schnell klar, dass ich schon wieder die eiernde Schubkarre genommen habe. Auf dem Weg zum Feld gehe ich in Gedanken durch den Werkzeugkeller…. vielleicht ist die Pumpe dort in dem rechten Stahlschrank?

Klar, das erste Bücken des Tages tut einfach weh. Ich weiß, dass es irgendwann besser wird. Die im Boden verbliebene Frische der Nacht leistet als Radieschenschmiermittel zuverlässig ihren Dienst. Und in den löcherigen Hinterlassenschaften der kleinen Rübchen wimmelt es von Leben: Regenwürmer, Larven, Käfer…

…wann hatte ich eingentlich zum letzten Mal saubere Fingernägel?… nur wegen seiner Belanglosigkeit verwundert registriere ich diesen vorbeiziehenden Gedanken.

Jetzt noch schauen, welcher Salat groß genug und noch nicht geschossen ist. Ein paar Gurken aus dem Gewächshaus sind auch reif für die Kiste. Viel Wasser fließt, bis die heutige Ernte im Lieferbus verschwindet.

Zeit zum zweiten Frühstück.

Die Pferde sind schon bei der Arbeit auf dem Acker. Das Misten geht mir leicht von der Hand. Ich schrubbe die Tröge und hole frisches Stroh vom Dach. Wie immer sehe ich Mäuse flitzen. Der alte Kater schaut ihnen unbeeindruckt hinterher. Er weiß, dass die nächste Gelegenheit kommt.

Das Unkraut wuchert. Zuerst die Setzlinge. Knochenarbeit.

Einfach an den Tisch setzen und reinlöffeln. Was bin ich froh, dass ich mich so oft vor dem Kochen drücken kann. Gerne kümmere ich mich stattdessen um den Abwasch.

Mittagspause. Danach noch eins, zwei Stündchen. Das muss für heute reichen.

Die Dusche ist frei. Wie gut sich das warme Wasser anfühlt. Steif schrubbel ich mir den Kopf. Frisch geduscht in sauberen, weichen Klamotten zu verschwinden ist mein täglicher Wellnessmoment.

Ich kann es genießen, zu liegen. Gut, dass es nicht so heiß ist heute. Kurz höre ich noch das Summen im Gras, bevor mir die Augen zufallen.

Gerne übernehme ich am Abend die Stallschicht. Und höre den Pferden ein Weilchen beim Kauen zu.


Der Schalter gibt klackend meinem Druck nach und löscht das Licht.

Wir sitzen noch ein bisschen draußen. Morgen ist wieder ein Tag. Das, was gesagt werden wollte, ist schon lange gesprochen. Gemeinsam schweigen wir noch etwas und hören dem Herrn Amsel auf dem Dachfirst zu, bis ich mich aufraffe und allseits eine gute Nacht wünsche. So liebe Menschen hier. Langsam glaube ich ihnen, dass ich willkommen bin.

Schwer heben mich meine Beine die Treppe hoch. Das Betreten der nervig laut knarzenden Dielen weiß ich schon lange zu meiden. Klackend senkt sich die Messingklinke und gibt den Weg in mein Zimmerchen frei.

Tut es gut zu liegen… Mein müder Körper, mein zufriedener Geist und ich sind einer Meinung. Einverstanden.

Einfach ein gutes Gefühl, hier zu sein.

 

verlässlich 2

Das Wort „verlässlich“ verlässt mich seit einer Weile in anderer Hinsicht nicht… ich formulierte kürzlich mal:

Ich bin kein Mensch, der verlässlich zu sich stehen kann.

Ist das schlimm? Ego meint verächtlich: „Schäm‘ Dich was!“ – Ego meint also, das sei schlimm.

Ist es aber gar nicht.

Es ist gut so.

Es ist gut, in dem Sinne, die Strenge des Egos, seine Wahrheiten, Beschuldigungen verlassen zu können:

Ich bin ein Mensch, der verlässlich zu sich stehen kann.

und

es macht Angst. Denn zu solchen launigen, wankelmütigen Menschen kann Andermensch nicht verlässlich stehen. Oder?

Bleib im Jetzt, Liebe, sagt mein Mitgefühl. Bleib‘ hier bei mir. Jetzt im Moment bist Du, real, völlig verlassen, denn Du bist alleine hier im Raum. Es ist kein Mensch da. Und, fühlt sich das schlimm an? Nein. (* Anmerkung der Redaktion: Kein Wunder, sie, mein Mitgefühl, ist ja da…) Jetzt im Moment lässt Dich das Ego in Ruhe, auch die Kleine schläft, egal wie viel Mist Du gemacht hast und wie verkorkst Du Dich manchmal verhälst: Egal, wie Dich Deine Kritiker bewerten. Egal, wie viel Angst in Deinen Gedanken über… steckt.

Wer verlässt überhaupt wen wann?

Alle Menschen sind im Moment auch verlassen von mir, denn ich bin alleine. Fühlt sich das für die im Moment schlimm an? Nein.

Ist das schlimm für mich? Ego/Kleine meint, kleinlaut, aber doch: „Ja, eigentlich schon…“ Womit die Lächerlichkeit dieses Urteils ziemlich offenbar wird.

Sie werden Dich verlassen! Sie werden Dich erkennen, angewidert sein und… Dich sowas von satt haben… zumindest viel lieber etwas mit anderen zu tun haben wollen… Lückenfüller…

Jetzt, im Moment jetzt, kann mir keiner (mehr) folgen. Ich weiß selbst nicht, auf welche Taste ich als nächstes tippe. Ich weiß nicht, was passiert.

Wenn Du Dich hingibst, wenn Du Dich zeigst, wirst Du die Angst der Wahrheit des Verlassenseins spüren. Du wirst erniedrigt, verspottet, weggeschickt. Du wirst verletzt, verwundet. So sehr, dass Du daran zu Grunde gehen wirst.

Der Verstand reagiert mit „Dumpfe“, mit Verdrängung, der Körper deutet Schock an. Für ihn war das schon sehr oft wahr. Für ihn war das früher so wahr, dass er das Programm gelernt hat, in bestimmte, lebensrettende Verhaltens- und Gefühlsmuster zu verfallen (Selbsterniedrigung, Anpassung, Unterwerfung, Kleinmacherei, Spott und Hohn, Anbiederung, Fremdverherrlichung, Realitäts(v)erträumung… Dumpfe und Verdrängung…).

Bei allem (in dieser Schockstarre) – verdumpften – Mitgefühl:

Sind diese Urteile im Hier und Heute deshalb weniger lächerlich?

Andauernd verlasse ich und bin verlassen und es ist nicht schlimm: Ist es nicht wunderbar befreiend? Auch das ist egal, denn es kann sich sogleich verdammt und real schlimm anfühlen, also wirklich sein… Und, Karin, auch das ist ein Geschenk, so fühlen zu können. Geschenke kann man manchmal nicht zurück geben oder wieder los werden. Man muss, darf sie behalten und etwas damit machen, lernen zum Beispiel:

Ich darf mich darüber hinaus

– immer wieder – auf mich

und

mich – immer wieder – verlassen.

Menschen verlassen mich. Mehrfach täglich. Und ich fühle es meistens nicht. Auch das ist schlimm. Und ich bin dankbar dafür.

Ich verlasse den Kreis vertrauter Menschen und fühle so dumpf. Dauerschuld. Manchmal kriecht die Angst hoch.

Und es ist nicht schlimm, dass es sich fühlt und denkt, als ob das alles zusammen genommen aber sowas von… sei.


„…diese Wichtigtuerei...“ ja, Ego… ruhig Blut. Wir sind uns unserer Unwichtigtuerei ja manchmal auch schon bewusst.

…und mit so einem Kram verpasst man das Leben… 😉

Dennoch: Danke für’s Lesen.

Noch mehr?


Ich bin ein Mensch, der verlässlich zu sich gehen kann.

Schmeckt sich gut an. Fühlt sich neugierig an. Ein schöner Legosatz. Lässt Freiheit zu, zu dürfen, auch anders zu sein, hat aber eine ziemlich begrenzte Richtung.

Den probier‘ ich vielleicht mal aus, lass‘ ihn mal so stehen… Der ist es aber nicht…

Denn: Ich bin auch (in) Euch, Ihr, die ihr seid und gewesen seid, seid auch in mir… wir leben zusammen. Und es gesellen sich neue Wanderer hinzu und wir dürfen uns wieder da sein und verlassen sein lassen.

Ich bin ein Leben, das, trotz (und nur wegen/in Form genau) dieser Menschengestalt, verlässlich lernen darf, einfach (einfach) zu sein.

Alles andere ergibt sich mit der Aufgabe.

verlässlich 1

Morgen trete ich die Reha in Freiburg an. Diese kann bis zu zwei Jahre andauern.

Heute steige ich aufs Motorrad und verlasse…

Ich sitze aufrecht in meinem Bett. Die Sonne schaut durchs Fenster. Hell ist es um 6:32 Uhr, blau das Stück Himmel. Es wird ein heißer Tag. Die Töne der Vögel wirken noch ein bisschen nachtmüde, gelangweilt. Vielleicht meckern sie über die Nachbarschaft. Vielleicht kommentieren sie ihre Körperpflege? „Und hier noch ein bisschen jucken, mach‘ mir doch mal einer die Plagegeister weg… und – aaaahhhrg – der Rücken… – was gibt’s heute eigentlich zum Frühstück?“

Ich werde mal sehen, was aus dem Kühlschrank noch weg muss. Ein Stück Ananas wartet da noch auf jeden Fall auf mich… Um spätestens 14 Uhr will ich aufgebrochen sein. Ich nehme die kurvigen, autobahnfreien Strecken, darf mich willkommen fühlen bei Margret und Franz. Klaus wird da sein. Und ein Willkommensein, das mir Tränen in die Augen treibt. „Da und verlässlich willkommen sein“ mit gefühlsechtem Wirklichkeitsgeschmack. Es sind willkommenheißende, herzliche Zärtlichkeitstränen für die Begrenztheit in mir.

Kann man etwas verlassen, das man gar nicht annehmen kann?

Das man glaubt, verdienen zu müssen? Bei gleichzeitigem unveränderbarem Schuldempfinden, weil man ja sowas gar nicht verdienen kann? Wenn sich Vertrauen ins Daseindürfen, in die Näheduldung immer wie ein „Vorschuss“ anfühlt, wie kann das „einfach“ sein dürfen?

Egal. So oder so nehme ich Euch alle, die mir am Herzen sind, mit. Das kann ich, auf meine Art. Ich pack‘ Euch zu mir, hab‘ Euch am Bandel, bestech‘ Euch… mit Füßekitzeln, Seifenblasen und Gutenachtgeschichten bei Kerzenschein (wahlweise Taschenlampe unter der Decke)… Ich mache ein Angebot, das Ihr nicht ablehnen könnt.

Und wieder schwappt ein Glücksgefühl zur Trauer. Meinem Körper wird’s warm… Ihr zumindest seid schon mal da angekommen 🙂

Ich bin begrenzt.

„Mach‘ das Beste draus.“ und „lass‘ es Dir gut gehen“. Ich nehme diese Sätze als gutgemeint an, und erweitere ihnen bewusst Raum, weil mir die Aufträge sonst zu groß erscheinen, nicht zu packen, vor zu schwierige Rätsel stellen, „Löcher in den faserigen Bug reißen können“.

Davon habe ich schon genug. Aber der Kahn fährt. Wir kennen uns schon eine ganze Weile und ich bin dabei, ihn lieben zu lernen.

Denn endlich vertraut er mir genug, sich mir ganz zu zeigen. Alle seine Wunden.

Vielleicht wie einen Oldtimer. Erst muss ich spengeln lernen, damit die Teile wirklich halten. Mein Hirn kapiert manchmal halt noch immer nicht, dass Neuteile von der Stange „einfach“ nicht passen.

Wir gehen auf Ausfahrt.

 

Anschlusspunkt

Und am Montag ging ich wieder ins Atelier. Irgendwann, als die beruhigende Wirkung von schlichtem Verweilen, getarnt, geschminkt, verwürzt mit Kaffee und Keksen, einsetzte, nahm ich mir ein grobes Skizzenpapier, sowie die Farben Schwarz und Weiß.

Ich gab der Leere eine haltlose Struktur, wollte diese aufweichen, verwässern, restliche Räume „irgendwie“ füllen, in Kontakt zueinander bringen, mischte die Farben, aber wirkungslos… letztendlich war der innere Konflikt („Mach’…! Tu.. Werd’… Aber schnell“ ) der den bewussten, vertauenden Beginn und ein zufriedenes Ende so schwierig macht, behandelt, bewerkelt, aber nicht bewerkstelligt, geschweige denn befriedet.

Irgendwann entstanden kleine Punkte auf einsamen, schwarzen Stellen. Wundenmarker?

Ein Pünktchen ist ein Ende und zwingend ein Neubeginn mit offenem Beginn: Ich habe infolgedessen immer wieder die Wahl, was nach dem Punkt geschieht. Was geschieht, fühlt sich begrenzt an (habe einen kleinen, weißen Pinsel in der Hand), ist es letztendlich aber nicht. Es könnte jederzeit zumindest ein Strich werden.

Ich fühle mich so begrenzt. Wodurch begrenzt? Durch den Raum, den ich mir zugestehe, die Möglichkeiten, die ich mir vorstellen kann, die Fähigkeiten, die ich mir einberaume.

Nein, Karin, diese Begrenzungen werden durch Dein Nein und Deine Schuld bewacht, aber sie sind vielleicht nur dadurch Grenze. Sie ist nicht das Ende. Du weißt es. Du reibst Dich an ihr. Gerne? Leidend? Gezwungenermaßen? Noch. Oft. Aber Du bist bewegt, auf sie zuzugehen.

Sie glaubt, Dich beschützen zu müssen vor Schlimmerem als „das allem“. So schnürt sie Dich ein mit Selbsterniedrigung. Aber sie gibt Dir Halt, hält Dich, wenn auch in Deinem Raum…

Du weißt, sie ist Deins, aber Du kannst sie nicht berühren, nicht nehmen. Jeder Kontakt mit tut so schlagartig „Nein“.

Punkt für Punkt. Wie abstoßende Magnete finden sie ihren Raum auf meinem Papier, lassen sich Abstand und Raum, werden sich aber nie nahe kommen, wenn sie weiter Punkt bleiben wollen.

Zu überwinden bin ich für mich nicht. Aber vielleicht einzunehmen. Durch Annahme. Oder „Radikale Akzeptanz“… die Grenze akzeptieren, sehen, achten, vereinnahmen,…? Wie wirdsoll das gehen?

Strich statt Punkt? Striche verbinden vielleicht, aber nähern sich dadurch Punkte wirklich an? Einer erobert den anderen. Flicken eine Wunde, heilen sie doch aber nicht.

Den letzten Punkt setzte ich auf dieses Papier am Montag, dem 1. Juli 2019, um 16:32 Uhr.


Montag, 1. Juli 2019, 16:32 Uhr.

Ich war also gerade dabei, möglichst „schöne“ Pünktchen in genau „richtigem“ Abstand auf die Welt aus Papier zu bringen.

Und ein anderer Mensch war im selben Moment dabei, einen der Punkte in meine Welt des Erlebens zu bringen, die sich „besonders“ hervortun. Die sich anfühlen, wie ein bedeutender, richtungsweisender Punkt.

Unser Treffpunkt war das Vibrieren meines Telefons.

Der Punkt heißt: Rehabeginn in Freiburg im Breisgau am Dienstag, den 9. Juli 2019

Nein, kein Schlusspunkt, denn es geht ja weiter. Es ist ein Anschlusspunkt mit Pfeil am Ende.

Ich ging zurück zu meinem Tisch und machte ein Bild vom Anschlusspunkt. Ein Bild, mit dem ich den Moment der Geburt dieses Farbstillstands fest hielt, um mir vielleicht vorzugaukeln, es gäbe irgendetwas im Leben, das auf/zuhalten sei.

Auf geht’s!

Klinik als Dienstfahrzeug

Es ist noch dunkel draußen. Die Temperaturen sind erstaunlich mild für Mitte November, aber der Nebel passt in den Monat. Das Rauschen auf dem Karl Kellner Ring nimmt langsam zu, aber momentan sind die Fahrzeuge noch einzeln auszumachen.

Es sind Konstruktionen, die erfunden wurden, Menschen dazu zu verhelfen, sich in einer Art fortbewegen zu können, die über das Maß ihrer ursprünglichen Möglichkeiten hinaus geht. Diensttuend hinterlassen sie Raum – sowie dieses typische Rauschen in meinen Ohren.

Ich werde heute ein leeres, abgezogenes Bett zurücklassen, dazu etwas Platz in Regalen, sowie ein verklingendes Geräusch, das entsteht, wenn ein Mensch eine hölzerne Treppenstufe verlässt, also ebenfalls eine Form, die dazu dient, von A nach B zu kommen.

Und als solche möchte ich gerade die Einrichtung begreifen, in die ich mich heute begebe – eine Psychotherapeutische Klinik als eine Konstruktion, die dazu dient, Menschen eine Fortbewegung zu ermöglichen.

„Ich muss mich umbringen oder mein Leben“ klingt arg theatralisch, entspricht aber prinzipiell meiner Beurteilung. Und wenn ich „mich“ im Hier und Jetzt getrennt erlebe, also Erleben als Produkt meines Gehirnes neben mir als körperlich existierendes Wesen, würde der Satz auch mit einem „und“ verbunden werden können.

Produkt meines Gehirns ist ein „Ego“, das mir das Erleben erschwert, verkompliziert, in Unruhe, Getriebensein, Verunsicherung versetzt – sich also in ständiger Gefahr wähnt. Egal, ob „ICH“ das so (wahr-) haben will oder nicht: Dieses Ego als Produkt meines Gehirns ist zum einen unschuldig (ich MUSS nicht so sein, denken, fühlen!), kann also frei gesprochen werden. Zudem ist es ‚überlebt‘, nicht mehr aktuell.

Da dieses Egoerleben aber nur ein Konstrukt meines Gehirnes ist – also nicht „ich“ ist, darf ich sagen, dass ich ES umbringen will und darf – getrennt von mir als Körperwesen:

Ich habe also das Ziel, mich von meinem Ego-Erleben fortzubewegen.

Dazu soll mir der heute beginnende Klinikaufenthalt dienen. Klinik und Therapie als Konstruktion, meinen Handlungsmöglichkeiten mehr Raum zu schaffen.

Therapiemethoden zu erkennen als hilfreiche Vorschläge, wie ich aus den zwingenden Urteilen meines Egos hinaustreten und mich von ihm distanzieren könnte. Rückschläge als Hinweis, nicht als Scheitern beurteilen lernen. Freude erkennen, berechtigen und erleben. Das Kommen und Gehen von Gefühlen an sich – vielleicht mit zunehmender Gelassenheit – beobachten und erfahren, vielleicht sogar lernen, also Werkzeuge zu be- und ergreifen, darin nicht mehr zu vergehen oder vom Ego hineingeworfen zu werden.

Das ist zu abstrakt, Karin.

„Ich“ weiß. Darin liegt Gefahr.

Menschen sollen mir als Ermutiger dienen, das Konstrukt „Klinik“ als Fabrik, die Methode DBT als Werkzeug, gleichgesinntes Sein, Denken, Fühlen, Tun, Teilen und Trennen mit Menschen ist der Werkstoff aus dem mein neues Erleben entstehen soll.

Das ist immernoch zu abstrakt, Karin.

Wenn Du ehrlich bist: Du hast in Begegnungen eigentlich grundsätzlich Angst. Du bist ständig gestresst, unter Anspannung und im Kontakt mit Deinen Kritikern. Du vergehst in ihrem Urteil, versuchst ihnen, statt Deinem Wohlergehen, selbstaufopfernd Dienst zu tun. Das ist wohl so, auch wenn Du dieser Tatsache davonläufst, Distanz schaffst mit Essen, Laufen, Telefonieren, Räumen, Grübeln, Verleugnen, Verschieben, Dich Kleinmachen…. etc… Du bist fern vom Hier und Jetzt, bist grundsätzlich wohl fast ununterbrochen in der Existenzbedrohung Deiner Kindheit, den Kritikern und den Gefühlen des Dichs als Kleinkind ausgeliefert. Du willst und musst weg vom Erleben Deiner Vergangenheit, willst Dich öffnen können lernen für das, was hier ist, jetzt im Hier und Jetzt. Darum geht es: Sicherheit erleben. Vertrauen erleben, auch ein Gefühl des Getrenntseins aushalten zu können. Aber auch: Gefühle des Insicherheitseins und Vertrauenhabens haben, aushalten, vergehen lassen lernen im Vertrauen auf die Wiederkehr. Dem alten Ego mit Würdigung Macht und Einfluss entziehen, dem neuen „Hier und Jetzt“ mit Offenheit, Zuversicht und Freude begegnen. Lernen. Nicht können.

…wird schon besser, Karin. Wohl geling’s 😉 Geht noch ein Schritt weiter?

O.K.

Die täglich auszufüllende Diary Card im DBT Programm beinhaltet den Punkt „Entscheidung für einen neuen Weg“

Ich habe gerade die sehr konkrete Idee, diesen Punkt hier in meinem Blog täglich zu veröffentlichen.

Butter bei die Fische.

So: 8:29 Uhr. Raus aus den Federn und der Komfortzone… – per Dienstfahrzeug.

Ein Gedanke

 

Es tun. Einfach tun.

Was sich richtig anfühlt.

Jetzt.

Mehr ist nicht zu tun.

Jetzt.

Ein Gedanke

Ja zum Ja sagen suchen.

Du weißt nicht, was sich richtig anfühlt?

 

Ja.

 


Praktisches Beispiel…

Ich nehme meine innere Unruhe wahr. Spüre den Druck der unterdrückten Angst.

Nein,

ich weiß ( – noch immer – ) nicht, wo ich sein und was ich tun werde. Nein, ich weiß noch immer nicht, was ich will. Und was ich nicht will.

Ich höre Scham und Schuld, Zorn und Wut, Angst und Zweifel.

Ich höre.

Ja,

ich lasse die Petersilie aus den Ohren… ich lasse und höre zu, bleibe und lasse sein, was da ist.

Jetzt.

Zulassen. Mich freuen, dass ich hören kann. Auch wenn ich ihnen nicht helfen kann, ich lasse sie singen.

…und habe jetzt „einfach“ diesen Antrag ausgefüllt, gefaxt, eingetütet, frankiert. Dann noch zwei Weitere solcher liegengebliebener Art.

Habe mich nicht versteckt, sondern Maja angerufen und abgesagt. Wegen des blöden Gefühls, das jetzt deutlich besser ist. Habe mich mit ihr zum Aglio Olio kochen heute Abend verabredet. Und ich darf wahrnehmen und ich darf sagen, wenn es mir zu viel wird. Sie versteht das.

Jetzt.

..kann ich mich sogar darauf – und auf sie (Dich, Maja) – freuen!

 

Brava, maestra!

 

Ein Jahr

Dieses Jahr fing für mich am 14. Dezember 2016 mit dem Linksabbiegen aus dem Parkplatz vor der Klinik Uffenheim an.

Es war genau vor einem Jahr. Wir waren noch eine Abschlussrunde gelaufen. Ich wollte nicht wirklich los in diese Unvorstellbarkeit des „Lebens danach“.

Ich wollte kein zwanghaftes Essen mehr. Kein Wegmachen durch TV und kein krampfartiges Aushalten der Arbeit mehr. Ich wollte etwas anderes.

Uffenheim war ein Aufbruch. Körperlich sichtbar durch 17 kg Gewichtsabnahme nach 10 Wochen, körperlich spürbar durch einen enormen Bewegungsdrang als Ausdruck des emotionalen Aufgewühltseins, der Ziel- und Haltlosigkeit, der Desorientierung, die ich nun fühlen konnte.

Ich habe begonnen zu laufen.

Ich wusste, dass sich etwas ändern muss. Aber was?

Der Rahmen meiner Vorstellungskraft beschränkte sich zum einen darauf, dass ich zukünftig „meinen“ Urlaub machen wollte. Ich hatte mir eine Wanderung zu Brigitte nach Weitendorf vorgenommen und mit groben Planungen begonnen. Zum anderen wollte ich mir eine Musikanlage für mein Zimmer kaufen, meinen Besitz reduzieren, meine Zimmer gründlich renovieren und anschließend umgestalten, um dort „meinen Platz“ zu finden und einen für Gäste zu haben, an dem ein Willkommensein zumindest räumlich zu spüren möglich ist.

Ich bin nicht nach Weitendorf gelaufen – aber gefahren. Ich sitze in meinem Zimmer auf einem Platz, der sich jetzt, für diesen Moment, gut, aber nicht wirklich wie meiner anfühlt. Ich höre Musik aus meiner Anlage. Vertrauen zu haben, dass Gäste nicht meine Wohnung, sondern mich besuchen wollen, ist noch immer nicht leicht, aber leichter geworden. So wie mein Besitz. Teilweise ultralight… 😉

Ich bin gelaufen.

Und ich habe erfahren: Auch wenn ich ein Ziel wie Santiago de Compostela erreiche, komme ich noch lange nicht an. Aber auch wenn ich nicht wirklich ein Ziel habe, erreiche ich doch auf meinem Weg meine Grenzen.

Diese nicht als mein Ende, sondern sie in diesem Moment als Notwendigkeit, Anlass und Beginn der Richtungsänderung anzunehmen ist die Aufgabe, an der ich glaube, mich noch zu beißen zu haben (ist das nicht ein so passend wie schöner Verschreiber?).

Ich habe eine Loslösung erfahren und spüre manchmal, wie sehr mich das ängstigt. So bin ich noch auf der Suche nach Halt und Ziel, statt den Fall, die Angst, die Verunsicherung, die Unvorstellbarkeit als das zu sehen, was sie sind:

Meine Begleiter.

 

 

Hineinleben

 

Man muss den Dingen die eigene,

Stille ungestörte Entwicklung lassen,

Die tief von innen kommt

Und durch nichts gedrängt 

Oder beschleunigt werden kann. 

Alles ist austragen 

Und dann gebären. 

Reifen, wie ein Baum, der seine Säfte nicht drängt

Und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, 

Ohne Angst, 

dass dahinter kein Sommer kommen könnte. 

Er kommt doch! 

Aber er kommt nur zu den Geduldigen, 

Die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, 

So sorglos, still und weit….

Man muss Geduld haben 

Gegen das Ungelöste im Herzen 

Und versuchen,  die Fragen selber lieb zu haben, 

Wie verschlossene Stuben 

Und wie Bücher, 

Die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. 

Es handelt sich darum, alles zu leben. 

Wenn man die Fragen lebt, 

Lebt man vielleicht allmählich, 

Ohne es zu merken eines fremden Tages 

In die Antwort hinein 

 

Rainer Maria Rilke

Briefe an einen jungen Dichter,  1908


Hallo Karin,

lieben Dank für Deine Grüße. Gerade hat mir eine Freundin ein Gedicht von Rilke geschickt und ich musste sofort an Dich denken. Es ist einfach wunderbar!

Ich hoffe wir sehen uns bald wieder!

Liebe Grüße

Rebekka


Liebe Rebekka!

Ja, wunderbar… das trifft’s.

Es öffnet das Herz, macht weit, gibt Trost und Zuversicht.

Hab‘ ganz lieben Dank für’s Weiterleiten und Teilen. Und besonders für’s an mich denken. Wir sehen uns – hoffentlich ganz bald! Und ich freu‘ mich jetzt schon sehr auf Dich.

Karin

Ungehaltensein zu leben träumen

 

Was wir lernen zu sein (Orginal: ‚tun‘)

Lernen wir, indem wir es tun.

benutzt von einem Zitat Aristoteles‘

 

„Und ich gebe dem Arbeitsbeginn auch fast gerne ein bisschen meiner Freiheit ab.“ (Zitat aus meinem Beitrag „Fremdarbeit“)

Nein. Stimmt nicht.

Ich würde sie sehr gerne behalten. Und zwar ganz.

Durch Tun mein äußerliches wie innerliches Ungehaltensein leben und dadurch vielleicht auch anzunehmen lernen.

 

Die Vorstellung ist so reizvoll

 

wie naiv.

 

Und ich bin ja gar nicht haltlos, sondern fühle mich durch Vernunft gebändigt und durch Angst gefesselt.

So schade.

 

Und dann dieses Zettelchen am Teebeutel heute Morgen:

 

 

Was soll ich dazu sagen?

Ich denke nämlich nicht gründlich über meinen Arbeitsbeginn, der Wohn- und Arbeitssituation, dem weiteren Lebensweg nach. Oder Dinge wie Autopflege, Ebayverkäufe und Krebsvorsorge.

 

Meine Gedanken sind viel lieber auf dem PCT.

 

Der Sehnsucht, dort zu sein und mich richtig zu fühlen. Ganz lange das Richtige tun. Im Weitergehen immer besser bei mir zu bleiben lernen. Mit all meinen Ängsten.

Mit dieser phantastischen Natur belohnt werden. Draußensein.

Da ist sie wieder, die idealisierende Sehnsucht des Frühjahrs… erschreckend und belustigend zugleich.

Weiß ich doch genau, wie schwer ich es dort mit mir hatte.

Aber andererseits weiß ich doch jetzt viel besser, was auf mich zukommt. Wo meine Schwierigkeiten liegen. Ich könnte es wieder von Neuem üben. Mich an Treffpunkten immer öfter gezielt zumuten üben statt die Einsamkeit suchen… Vertrauen üben in meine Entscheidungen bei Einkäufen und der Streckenplanung. Das Gepäck reduzieren. Mich einfach nochmal ins Wagnis stürzen.

Erwische ich mich während des ausschweifenden Tagträumens oder ist es etwa schon ein verspielter, jetzt nicht mehr ganz verschwiegener Planungsbeginn? Der Tag der Antragstellung für den Long-Distance-Permit naht…

Aber sind Naivität, Lust, Verträumt- und Verrücktsein, nicht die Vorboten von Vertrauen? Das Salz in der Suppe?

Nein. Wohl eher nur der unbeholfene Versuch vor dem alltäglichen Leben zu fliehen.

Immer wieder dieselben Fragen.

Ach, und wenn schon.

In Uffenheim habe ich den für mich sehr stimmigen Satz gefunden: „Ich will nicht mehr (zwanghaft) essen, ich will was anderes“ (Trost, mich annehmen und in mir ruhen können, das Gefühl, sicher angekommen zu sein, mit mir zufrieden sein, Nähe und Vertrauen, usw…).

Ich will meinen früheren Alltag nicht mehr. Ich will irgendetwas anderes. Und so lange ich nichts ähnlich phantastisch Schmeckendes mit mir anzufangen weiß oder anfangen will, träume ich eben ein bisschen vom Ganzsein auf dem PCT…

…und unterlasse es vorsichtshalber, mir Bilder anzusehen 😉

Fremdarbeit

Es ist der 1. November 2017.

Ich nehme zwei Schlüssel aus dem Kasten. Einer hängt seit einem halben Jahr ununterbrochen oben links in der Ecke. Manchmal habe ich ihn gesehen. Es ist wohl nicht möglich, gleichzeitig zu seufzen und selbstermutigend tief einzuatmen. Sonst täte ich es in diesem Moment wohl.

Ich lasse sie leise klimpernd in meine Jackentasche fallen.

Türe auf, Licht aus, Türe zu, Treppe runter. Die Haustüre fällt ins Schloss.

Es ist dunkel.

Der Zeigefinger macht diese kleine Bewegung und ein gefühlt viel zu lautes fünfstimmiges Klacken öffnet die Türen des Dacias. Ich steige ein, suche auch nach sieben Jahren noch das Zündschloss und finde es spätestens mithilfe eines genervten Blickes. Der Motor springt an und los geht’s. Die Strecke wird mir gleichzeitig merkwürdig fremd und vertraut vorkommen. Nach ca. fünfunddreißig bis vierzig Minuten bin ich an der Arbeit.

Wie wird die Antwort meines winkenden Abendgrußes ins Pförtnerhaus ausfallen? Gleichgültig, irrtiert oder gar erfreut? Ich bin schon jetzt neugierig.

Und vielleicht blinzelt mir ja der blaue Golf schon erwartend zu, wenn ich ganz langsam zum Parkplatz hoch fahre?

Ach, ich freu‘ mich auf Dich, Irene!

Wir werden uns herzen und gemeinsam die vielleicht 367. und gleichzeitig erste Nacht verbringen.

Ich werde mich fremd fühlen.

Und keine Angst davor haben.

Ich werde mich an Laage erinnern: Mich fremd zu fühlen ist ein, ja, so gesehen auch willkommener Teil von mir. Ich habe ihn sehen gelernt. Und komme mit dem Schmerz schon ein bisschen besser klar. Jetzt im Moment habe ich verstanden: Ich kann aufhören, dort geliebt werden zu wollen und anfangen, zu arbeiten.

Ja, ich habe Angst vor dem Versagen meiner Fähigkeit und dem Verlust meines Willens, meine Grenzen zu erkennen und sie zu respektieren. Dem infolgedessen haltlosen Inmichzusammenfallen oder dem Rückfall in alte, dämpfende Muster.

Aber nur die Zukunft weiß, was wirklich wird.

Und ich gebe dem Arbeitsbeginn auch fast gerne ein bisschen meiner Freiheit ab. Ich habe die vage Hoffnung, mein auch kräftezehrendes, fast grenzenloses Getriebensein durch die festen Termine ein wenig einzudämmen. Um vielleicht, passend zur Jahreszeit, ein wenig zur Ruhe zu finden.

So viel zur Theorie.

Es gibt sie also, die Früchte des Jahres. Manche kann ich vielleicht schon erahnen und ich bin gespannt, wie sie duften und aussehen und hoffe, sie ehrlich und innig zu lieben.

Und ich freue mich schon auf das Erntedankfest mit Euch!!!

Irgendwann…


Gleichzeitig

Ich bin hier in Nürnberg bei Christoph von Herzen und fast bedingungslos willkommen, der Himmel lacht blau, und die BMW wartet unten am Gingkobaum. Ich freue mich, mit ihr die kleinen Strässchen der fränkischen Schweiz zu erkunden.

Ich bin gesund.

Sehe Früchte und Freunde.

So viel Glück!

Aber trotzdem drängt sich die Traurigkeit vor, lässt ihre Tränen frei.

Die Argumente der Vernunft sind machtlos.