Glocken und Quellen

Gerade war es wieder so weit:

Das Altenheim gegenüber hat einen Sicherheitsdienst beauftragt. Er fährt nachts mehrfach, aber immer zwischen 2 und 3 Uhr, mit einem PKW vor. Die Tür geht auf. Manchmal klingt das Radio bis zu mir hinauf. Der Angestellte verlässt das Auto, die Tür geht zu. Nach dem kurzen Kontrollgang öffnet und schließt sich die Türe wieder, der Motor springt an und ein paar Sekunden später sind die Geräusche des wegfahrenden Fahrzeugs aus dem Vernehmungsbereich meiner Ohren verschwunden. Alles in allem keine schöne Melodie. Schlicht eine zuverlässige, wiederkehrende, störende wie willkommene Sequenz meiner altbekannten Nachtmusik.

Und die Sanftheit der Verärgerung darüber erinnert mich an ein anderes ihrer Bühnenauftritte in heutiger Zeit. Früher war das anders…

In den letzten Jahren meiner Arbeitstätigkeit hatte ich mich zumeist in den Nachtdienst geflüchtet. Morgens, sofort nach dem Heimkommen, meist so gegen 7:00 Uhr, fiel ich komatös ins Bett, und wachte, nach manchmal mehreren Unterbrechungen, mich gequält fühlend und unausgeschlafen, aber meist erstaunlich pünktlich um 12:30 Uhr, auf. Meine Tagesaktivitäten, welche überwiegend aus Fernsehen und Essen bestanden, versuchte ich bis 16:30 Uhr zu beschränken, um dann nochmal etwas Schlaf zu finden. Meistens kam ich dann aber nicht zur Ruhe, sondern zum Gedankenkreisen.

Und jeden Freitag um 18 Uhr erklang es. Erfolglos habe ich soeben googelnd versucht, herauszufinden, welchem Kirchturm dieses Glockengeläut eigentlich entspringt. Aber es ist auch nicht wichtig. Jedenfalls landete es zielsicher in der vordersten Front des Zentrums meiner Aufmerksamkeit. Nein, nicht wirklich ist und war es musikalisch unerträglich oder von übertriebender Lautstärke. Noch läutete es länger als 10 Minuten. Es hinderte mich dennoch ausdauernd, meist vollendet, am Einschlafen, bohrte sich, manchmal schon vor dem ersten Schlag, zielgenau in die Quelle meines Zorns. Ich regte mich zwingend, heftig, gründlich und über dieses Geräusch auf. Und gleich anschließend darüber, dass das so ist. Ich konnte einfach nicht mehr davon ab- und mich infolgedessen auf das Einschlafen einlassen.

Was lässt mich jetzt wachen, was aufhorchen, was regt zu diesem Beitrag an? Was will ich fassen, begreifen, zur weiteren Begutachtung niederlegen und, vielleicht einstweilen und immer wieder verstehen können?

Die Glocke läutet noch immer freitags um 18 Uhr. Und der Sicherheitsdienst durchquert meine Nachtmusik. Die Quelle des Zorns aber hat vom Druck abgelassen und erlaubt einen Blick tiefer.

Egal ob wütender Zorn über sinnlosen Widerstand oder Sanftmut durch verlässliches Kommen und Gehen. Nicht wichtig ob Enge durch mikroskopische Konzentration auf ein Geräusch oder gelassene Annahme durch Ausweitung des Blickes auf die Gänze der Nacht mit all ihren Gewohnheiten.

Es ist die Zuverlässlichkeit, die mich rührt. Und dabei ist es völlig egal, zu was: Zorn oder Sanftmut – völlig egal. Ich kann mich darauf verlassen, das es immer so ist. Das die Bindung hält.

Vielleicht ist es auch so mit dem Essen, der Arbeit und dem Schuldgefühl. Oder beispielsweise mit dem Körper und der Scham? Der Tiefe der Verzauberung, die der Geruch von Pferden und Heu auslöst?

Empfinden von verlässlicher Verbundenheit.
Womöglich ein Gefühlsbonbon der Geschmacksrichtung „Urvertrauen“?

Befriedigen vom Bedürfnis nach Sicherheit, dem Nenner aller Wesen, durch alle teilbar, Teilsein von allem Leben.

5:03 Uhr. Die so unwirkliche wie mir gerade willkommene Glocke der Schlafstörung schwingt leise aus. Ich versuch’s nochmal…

Entwicklung

Es ist vier Uhr nachts. Ich finde den Schlaf nicht mehr, aus dem ich komme. Milder Straßenlärm dringt durchs offene Fenster ein. Und Dunkelheit.

Ein Wort lässt mich seit gestern nicht mehr in Ruhe. Es ist wohl eine Frucht am Baum des – zumindest: Blogbeitrag – Werdens.

Nun ist es reif…

Was ich verstanden habe, war eine einfache Frage nach dem, wie es mir ergeht, was sich bei mir „entwickelt“.

Und ich habe ein Bild gefunden, das ich vermutlich irgendwann einmal in einem Comic gesehen habe:

In meinem Kopf zieht Obelix, so wie er nunmal ist, zwar gutherzig, kindlich naiv unüberlegt neugierig, aber tölpelhaft an den Bändern, mit denen eine Mumie eingewickelt ist. Die bereits gelösten weißen Bahnen füllen das Bild, fliegen durch die Luft, bilden Haufen am Boden. Das, was da entwickelt wird, ist nicht zu erkennen. Es wird durch den Zug wild herumgewirbelt und dabei immer wieder auf den Boden geschlagen.

Entwicklung findet bei mir irgendwie gefühlt passiv statt. Ich entwickele mich wenn, dann wohl so wie Obelix es täte.

Gerade stecke ich in der Hilflosigkeit des Bildes. Was kommt da zum Vorschein, wenn die Bänder weg sind? Ich habe Angst, das da nichts ist, was es zu entwickeln gäbe. Nichts, woran ich wirklich glauben könnte. Was von Wert wäre… Und keine Spur von Vertrauen, das ich es für / gut halten könnte.

Ich erinnere mich an eine Übung in der Klinik in Uffenheim. Die Übung fand in Dreiergruppen statt. DIN A 4 Blätter am Boden markierten einen Schritt der Entwicklung. Man wechselte sich ab: Ein „Helfer“ las vorgegebene Fragen nach persönlichen Leitlinien und Werten im Leben vor. Der, der die Übung gerade durchführte beantwortete die Frage laut und durfte einen Schritt weiter voran auf das nächste Blatt schreiten. Ein weiterer Helfer machte davon Notizen.

Mindestens zehn solcher Dreiergruppen führten die Übung gleichzeitig durch. Der Raum füllte sich mit Fragen, Antworten, Emotionen.

Ich war schon einige Wochen dort und spürbar innerlich aufgebrochen auf meinem Weg, der mich heute hier her an den Computer zum tippen dieser Zeilen gebracht hat. Einige Bahnen des Stoffes von Dämpfung und Schutz waren schon weg.

Ich weiß nicht mehr genau, wie die Fragen lauteten, aber ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr sie alles, was mich zu halten schien, durchdrangen. Ich alleine für mich hätte mich ihnen und meiner Leere vielleicht noch vorsichtiger nähern können… so aber nicht.

Etwa nach der Hälfte, genauer gesagt bei der Frage nach meinen „Fähigkeiten“, brach ich die Übung ab.

Ich weiß gar nicht mehr, ob ich äußerlich als Helfer weiter da sein konnte. Es kann gut sein, dass ich das hinbekommen habe.

Innerlich jedenfalls war ich nicht mehr da, war, und das kann ich heute erstmalig in Worten erfassen, dem Druck des Leeregefühls erlegen.

In diesem Zustand sind die Gefühle Scham, Schuld, Verzweiflung wie eine Decke des Schutzes. Die Härte der Selbstentwertung passives Mittel des Haltes, die erste Leiterstufe auf dem Weg zurück.

Genau diese Erkenntnis lässt mich ein innerliches Aufatmen wagen. Ein neuer Blick auf das, was mein Hirn manchmal produziert. Es ist noch da zum Schutz, bis ich so weit bin, mich dem mutig stellen zu wagen, was da ist.

Neulich fasste ich beim Gespräch mit meiner langjährigen Hausärztin mein Erleben in mich hineinfallend mit „Ich bin so kaputt…“ zusammen. Worauf sie meinte, sie würde es eher so sehen: „…schon SO kaputt!!!“ Ich hätte schon so viel geschafft. Unser Lachen tat mir so gut.

Und ich freue mich sehr über dieses Bild vom mumienentwurschtelnden Obelix. Und ich kann mich auch erinnern, dass es im Comic kein ekeliges, verabscheuungswürdiges, totes Etwas war, was er da entwickelte.

Es war ein lebendiger Mensch.

 

 

Ein Jahr

Dieses Jahr fing für mich am 14. Dezember 2016 mit dem Linksabbiegen aus dem Parkplatz vor der Klinik Uffenheim an.

Es war genau vor einem Jahr. Wir waren noch eine Abschlussrunde gelaufen. Ich wollte nicht wirklich los in diese Unvorstellbarkeit des „Lebens danach“.

Ich wollte kein zwanghaftes Essen mehr. Kein Wegmachen durch TV und kein krampfartiges Aushalten der Arbeit mehr. Ich wollte etwas anderes.

Uffenheim war ein Aufbruch. Körperlich sichtbar durch 17 kg Gewichtsabnahme nach 10 Wochen, körperlich spürbar durch einen enormen Bewegungsdrang als Ausdruck des emotionalen Aufgewühltseins, der Ziel- und Haltlosigkeit, der Desorientierung, die ich nun fühlen konnte.

Ich habe begonnen zu laufen.

Ich wusste, dass sich etwas ändern muss. Aber was?

Der Rahmen meiner Vorstellungskraft beschränkte sich zum einen darauf, dass ich zukünftig „meinen“ Urlaub machen wollte. Ich hatte mir eine Wanderung zu Brigitte nach Weitendorf vorgenommen und mit groben Planungen begonnen. Zum anderen wollte ich mir eine Musikanlage für mein Zimmer kaufen, meinen Besitz reduzieren, meine Zimmer gründlich renovieren und anschließend umgestalten, um dort „meinen Platz“ zu finden und einen für Gäste zu haben, an dem ein Willkommensein zumindest räumlich zu spüren möglich ist.

Ich bin nicht nach Weitendorf gelaufen – aber gefahren. Ich sitze in meinem Zimmer auf einem Platz, der sich jetzt, für diesen Moment, gut, aber nicht wirklich wie meiner anfühlt. Ich höre Musik aus meiner Anlage. Vertrauen zu haben, dass Gäste nicht meine Wohnung, sondern mich besuchen wollen, ist noch immer nicht leicht, aber leichter geworden. So wie mein Besitz. Teilweise ultralight… 😉

Ich bin gelaufen.

Und ich habe erfahren: Auch wenn ich ein Ziel wie Santiago de Compostela erreiche, komme ich noch lange nicht an. Aber auch wenn ich nicht wirklich ein Ziel habe, erreiche ich doch auf meinem Weg meine Grenzen.

Diese nicht als mein Ende, sondern sie in diesem Moment als Notwendigkeit, Anlass und Beginn der Richtungsänderung anzunehmen ist die Aufgabe, an der ich glaube, mich noch zu beißen zu haben (ist das nicht ein so passend wie schöner Verschreiber?).

Ich habe eine Loslösung erfahren und spüre manchmal, wie sehr mich das ängstigt. So bin ich noch auf der Suche nach Halt und Ziel, statt den Fall, die Angst, die Verunsicherung, die Unvorstellbarkeit als das zu sehen, was sie sind:

Meine Begleiter.

 

 

neue Kategorie „Altes würdigen“

 

Diese Notiz stammt aus einem Gespräch mit meinem Uffenheimer Therapeuten Hrn. B.

Ich habe mich ihrer erinnert und sie herausgesucht, nachdem ich den heutigen Beitrag „Musiklehrer“ geschrieben und mich danach so wehmütig und schwer gefühlt habe.

Wehmut und Schwere dürfen sein. Ich darf den Schmerz spüren und feststellen, wie sehr diese alten Verletzungen mich noch heute beeinträchtigen.

Sie gehören zu mir, beeinflussen mein Denken und Fühlen, mein Handeln und Planen.

Manchmal bekomme ich sie als so eine „alte Verletzung“ zu fassen, so wie im vorhergehenden Beitrag.

Aber ich darf und kann mir bewusst machen, dass es auch etwas anderes gibt:

Das Neue.

Hier steht klar die Angst im Vordergrund.

Und auch sie gilt es zu würdigen – aber mich nicht davon lähmen zu lassen.

Auch wenn die Vergangenheit vielleicht ganz voll ist von Schmerz und die Zukunft vielleicht ganz leer von Angst:

Sie ist noch nicht geschrieben.

Und es liegt an mir, wer den Griffel in der Hand hat.

 

Musiklehrer

Ich habe den Raum noch vor Augen. Im Erdgeschoss des damals modernen, offenen Schulgebäudes meiner Grundschule war die Aula zu einem kleineren Raum abtrennbar, in dem der Musikunterricht stattfand. Es gab ein Klavier und diese typischen, Stühle aus Pressholz mit klappbaren Schreibauflagen. Ich habe den Raum als hell in Erinnerung. Wir Kinder saßen in einem weiten Halbkreis, kaum drei Reihen hintereinander. Der Boden war bedeckt von diesen glattengeschliffenen, schwarz-weiß gemusterten Steinfliessen. Es war für mich immer mit einer kleinen Aufregung verbunden, in diesen so selten genutzten Raum gehen zu dürfen.

Wie hieß noch diese Lehrerin? Fr. M… ?

Versuche ich mir aus dem nebligen Erinnern ein Bild zu machen, steht das Klavier fast mittig im Raum und das Licht trifft die schlanke, nicht mehr junge Frau von seitlich links hinten. Sie trägt eine große, rundliche Brille mit beigem Plastikgestell. Ihre eher dünnen, blassbeigen, Haare dürfen ihren Kopf ein zärtlich wild wirkend umwirbeln. Ich glaube, sie hatte sie ein bisschen hochgesteckt. Stelle ich mir ihre Kleidung vor, habe tatsächlich vorsichtige Schlaghosen in Erinnerung. Oder einen glatten, wadenlangen, wollenen Rock in Naturfarben.

Es gab Lehrer, von denen wollte ich ganz besonders gemocht werden. Sie gehörte wohl eher nicht dazu.

Sie wirkte genervt und lustlos auf mich. Heute denke ich mir, wir grauenvoll es wohl auch gerade für musikalische Menschen sein muss, Grundschulkinder auch noch singend ertragen zu müssen.

Vielleicht mussten wir deshalb so oft „Peter und der Wolf“ anhören?

Aber ich habe das Singen noch sehr gut in Erinnerung. Wir krakehlten gemeinsam Volkslieder oder versuchten uns im Kanon. Manchmal bekamen Auserwählte – ich nicht – eine Rassel oder einen Schellenring und durften mit musizieren.

Ich kenne die damaligen Lehrpläne einer Grundschullehrerin im Fach Musik nicht. Meiner Meinung nach sollte damals wie heute das Entdecken und Erleben der Freude am gemeinsamen Musikmachen im Vordergrund gestanden haben bzw. stehen, unabhängig von der Qualität des Produktes. Aber die Ziele dieser Frau sahen wohl ganz anders aus, denn zwei ihrer Sätze sprechen Bände davon und haben sich so tief in die Knochen meines Gehirns gebohrt, dass ich bis heute meine Singstimme nicht hören mag und nur mit lauter Musikbegleitung überhaupt in die Welt lasse:

„Irgendetwas brummt hier…. Karin, sei mal ruhig. Ah, jetzt ist es besser.“

Auch wenn es lächerlich erscheint, die Tiefe dieser Verletzung geht weit über das damalige Verbot, mitsingen zu dürfen, hinaus.

Nicht nur mein Glaube, nicht schön singen zu können, ist seit diesem Moment felsenfest verankert. Ich störe die Harmonie meiner Mitmenschen, indem ich auch nur versuche, Teil zu sein. Und ich muss deshalb still sein.

Es war die Bestätigung dessen, was ich für mich bereits festgestellt hatte zu sein: Ich bin zu viel, überflüssig. Ich bin geduldet, nicht Teil. Und machtlos, weil einfach nicht begabt.

Noch heute spiegelt sich meine Sehnsucht, Teil sein zu können, in der Vorstellung, eine erwünschte Stimme in einem Chor sein zu dürfen, wider.

Eine Kirche beispielsweise, fühlt sich für mich „richtig“ an, wenn sie vom Klang (für mich) schöner Musik durchströmt ist. Wie berührend muss es erst sein, Teil derer zu sein, die so etwas zu tun vermögen!

Manchmal denke ich, ich würde gerne noch eine Sprache lernen.

Vielleicht sollte ich besser Gesangsunterricht nehmen.

Was mich bremst?

Mangelndes Vertrauen in die Fähigkeiten von Lehrern der Musik, sollen sie mir doch eigentlich das Lebendürfen beibringen.