Zwei Wolken

Auf dem Rückweg vom Praktikum präsentierte sich neulich eine Wolke über der Stadt Freiburg – und somit auch mir. Ihre Form und Ausdehnung im Verhältnis zu meinem Blickwinkel gaben wohl den Ausschlag, mich spontan und sehr konkret an eine andere Wolkenbegegung zu erinnern…

„Egal!“

Meine Beine traten unbeeirrt weiter in die Pedale  – ein genervtes „nimm’s nicht so wichtig“, „ja, hab’s ja gesehen“ oder eher fliehkräftiges „genug davon“„nur weg“ im Sinn…?

Nein, dieses Mal nicht:

Ich hielt an und machte ein Bild dieser Wolke über Freiburg zur Mittagszeit am Montag, 27. Januar 2020:

Und dies ist das Spiegelbild meiner Erinnerung:

Eine Wolke, deren Erscheinung ich am, 16. Mai 2017 zugegen war. Meine Recherche sagt, es sei ein Dienstag gewesen. Ich war „unterwegs nach Hikertown“ (Link) auf dem PCT.


Es ist eine Art Schmerz, der noch heute oft dabei entsteht, wenn ich mich an meine Zeit auf dem PCT erinnere.

Es ist nicht so, dass ich mich nicht an ihn, den Weg, erinnern möchte. Im Gegenteil. Es zieht mich immer wieder dort hin. Ich habe ihn bei all der Intensität meines dortigen Erlebens so sehr verpasst. Ich glaube, alles vergessen, gar nichts wirklich wahrgenommen zu haben. Ein „ich hätte sollen, müssen, besser, anders sein…“ schwebt in der Luft. Ein „ich mag gar nicht daran denken“…

Oh, an die Wärme und all das mag ich denken. An die tollen Menschen dort. An die Chance, die ich wagte zu ergreifen.

Und: Ich mag auch nicht daran denken. Denn der Schmerz sitzt überall. Dort beim Selbstvorwurf beispielsweise, nicht hart genug mit mir gewesen zu sein. Oder bei den Gedanken an die verpasste Chance. Auch vermeide ich es lieber, mich bewusst an die Verzweiflung zu erinnern, die ich dort zeitweise durchlebt habe. Sie könnte womöglich wiederkommen? Wäre ich nun gewachsen, sie zu versorgen? Könnte ich jetzt mir gegenüber genug Vertrauen aufbringen, mir gewachsen zu sein?

Und dann noch dieses Sammelsurium von Wut auf mich selbst…

Ich „muss“ mir verzeihen. Mir vergeben. Es betrauern.

Selbst, wenn ich es könnte: Und dann? Hinter den Tränen liegt ja doch nur wieder Sehnsucht mit ihrem…

 

Vielleicht muss ich diesen Traum begraben, mir zu vergeben sei möglich.

Und der doch tatsächlich immer wieder, zu allen möglichen Geschichtenbasteleien, Begegnungen, Erlebnissen oder gar Phantasien aufkeimenden Hoffnung mit aller Macht ihren Lebenssaft entziehen, der sie ständig mit dem Irrsinn nährt, die alten Wunden seien womöglich doch heilbar.


Ich brauche sie, die Hoffnung, im Heute, im Hier und Jetzt. Ich brauche sie, damit es sich irgendeine Idee, ein Plan, womöglich ein Ziel richtig anfühlen kann.


Komm, Hoffnung, lass‘ sie ruhen in Frieden, die „Alten“ (Wunden)… Wir leben schon so lange mit ihnen.

Und, was ist nun mit dem miesen Gefühl bei den Gedanken an den PCT?

Würdigen. Es war emotional so schwer. Die ungestillte und nicht verschließbare Sehnsucht nach Geborgenheit, Nichtfalschseinimlebengefühl, nach Vertrauenkönnen aus meiner Kindheit brach (mir) aus… Ich konnte sie deutlich spüren. Und die Entwertung war zügellos.

Den PCT habe ich verlassen, aber den Weg, den ich nach der Gabelung in Uffenheim nahm, setze ich fort.

Ich bin auf dem Weg.

Und diese beitragsveranlassende Wolke über Freiburg hilft mir vielleicht, „meinen“ PCT und all dem dort mit mir Erlebten mit Respekt und weitmöglicher, liebevoller Anerkennung in die Augen zu sehen.

Ich fange mit einem respektvollen, festen Blick an. Sekundenlang.

Baum und Knüpfer

Baumgefühl

K. lud mich ein, mich hineinzufühlen. Bilder zu beschreiben, die mir in den Sinn kommen. Und schließlich dem allen einen körperlichen Ausdruck zu geben.

Ich stand fest, wenn auch nicht sicher. Ich stand schwer. Ein alter Baumstamm ohne sichere Wurzeln auf kalkigem, kargen Boden.

Aber ich wusste mich in guter Gesellschaft, auch wenn ich sie nicht sehen konnte. Ich wusste mich in guter Baumgesellschaft – die da ist in einiger Entfernung, aber guter, wohliger Gesinnung sowie gesund und sicher. Wie sich Bäume über Pilze Botschaften senden, war ich mir dessen bewusst.

Verkrüppelte, kurze Äste ragen waagrecht aus mir heraus. Sie wissen um den kommenden Akt wieder auszutreiben. Wissen um die Kraft, die es kostet. Wissen, dass sie müssen. Wissen, wie wenig sie sind. Wissen um die Erstarrung ihrer Lebensadern, die spröden Wände und um deren kleingläubiges Fassungsvermögen.

Sie wissen, was auf sie zukommt. Nein, auf diesen zähen, mühsamen Kraftakt haben die Äste keine Lust.

Aber da gibt es diesen Gedanken, der Leichtigkeit und Hoffnung weckt. Eine Phantasie, wie schön es sein könnte – oder vielleicht eine Erinnerung daran, wie es damals schonmal gewesen war…? Ein lächelnder Gedanke wie der Traum von einer guten Fee.

Ja, das wäre so schön – dabei zusehen zu können… und es könnte doch vielleicht wahr werden, dass ein Vogelpaar ihr Nest auf den verkrüppelten Ästen baut. Er könnte ein Zuhause sein – einfach so, weil genau dieser Ast den Fremdlingen gefällt…

Der Baum stellt sich vor, wie es ist, einfach, in Vertrauen, auserwählt zu sein. Wie es wohl sein mag, einfach dabei zuzusehen, wie es wächst, dieses Vertrauen in Form eines Nestes. Er muss und kann auch gar nichts tun, als er zu sein, als er zu leben, beim Leben anderer zuzusehen und sich daran zu erfreuen.

Der Baum denkt und schaut auf das frei phantasierte Nest in der Zukunft. Ihm wird ganz aufgeregt, er traut sich kaum zu blinzeln ob dieses vorsichtig wahrhabenden, ja, zärtlich prickelnden Glückes…

das in Schauern, aber ganz leicht über meine Oberarme tanzt.

Jetzt.

 

 

Knüpfergefühl

Nach langer Zeit habe ich wieder das Bedürfnis, etwas festhalten zu können. Ein Gefühl der vorsichtigen Öffnung. Ich mag es halten, wenn ich auch nicht recht vermag, es zu greifen.

 

Ja, ich wollte dem Gefühl einen Halt geben. Dieses Gefühl, das ein Baumbild bekommen hat, einladen, sich in einem weiteren Symbol auszubreiten, einzuleben, sich zu verweben…

…und so kam mir mein rotes Merinounterhemd in den Sinn. Mein Lieblingsunterhemd (ja, sowas kann man haben… ;-)).

Während meiner Zeit in der Tagesklinik im Frühjahr / Sommer 2018 hatte ich begonnen, es wieder zusammenzuflicken. Bunte Nähte und Stopfflicken entstanden. Später flossen irgendwelche Phantasiemuster in Form von Stickereien hinzu. Und zur Besänftigung meiner kritischen Selbstkommentatoren ein Symbol für mein Mitgefühl.

Viele Monate trug ich es nur, bis es nun an der Zeit war, weiterzumachen.

Habt Ihr schonmal mit vier Nadeln gleichzeitig gestickt? Es wollte genau so – aus dem Moment heraus – werden und es wuchs. Fäden trafen sich, gingen ein Stück zusammen, bildeten Knoten, trennten sich. Sind zusammen eins und jeder für sich.

Nicht schön, aber da. Wie der Baum.

Fester Halt

Ich kann mich nicht um Dich kümmern. Ich kann es nicht.

Ich arbeite mich deshalb ins Mussdoch-Schuldendelir, nehme mir Gebirge auf, nur damit ich sie vor mir und wenigstens eine feste Wahrheit in mir habe.

Schulden sind ein fester Halt.

(hätten auch meine Eltern sagen können)

Ich kann nicht – ich kann mich nicht um Dich kümmern – sage ich zu meiner „emotionalen Inkontinenz“.

Und die Kontinente scheinen immer weiter auseinanderzudriften

Ein Riss zwischen Schuldengebirge „Nein“ und dem Meer der Möglichkeiten namens „Ja“.

Starre

Ich fordere mich auf. Und ich erstarre. Wähne mich im Land der Erkenntnis und will nur wieder weg.

Mein Hirn weiß nicht, wie es sich anfühlt. Es kann keine Kopie im Jetzt davon erstellen. Es weiß nicht, wie es sich anfühlt – „Am richtigen Ort zu sein UND es auch zu wollen“. Es kann den Schluss nicht ziehen, „Ja“ zu sagen.

„Hierstimmtwasnicht“ raunt dazwischen und „Schlimm“, dieser Hagere, Ängstliche, zieht alle Schwere auf sich wie ein schwarzes Loch.

Baumarkt

Neulich 1

Getriebensein in Unzufriedenheit brachte mich dazu, mich zu ermutigen, ein Ding zurückgeben zu wollen, das ich vor Wochen zwar mit der Idee von Sinnhaftigkeit und Verstand gekauft, aber nie wirklich gebraucht hatte. Es handelte sich um einen Sicherungskleber für Schrauben, auf die man nicht noch einmal verzichten möchte…

Ich rechnete bei dieser kleinmutigen „Ware gegen Geld Rücktauschaktion“ zwar nicht wirklich mit Erfolg, hatte aber Hoffnung, diesen vielleicht dann aber doch als solchen verbuchen zu können.

Und so geschah es! Ich freute mich einfach – über den gelungenen Versuch.

Ich war wirklich ein bisschen in meiner Glückseligkeit wattiert. So stand ich da an der vom Laden vorgesehenden Einpackstation und ließ mich von all den dort angebotenen Hilfsmitteln, Werkzeugen und dem Service des Unternehmens zum Verschnüren und Transportieren des Baumarktes (Kordel, Klebeband, Werkzeuge, hölzerne Haltegriffe, kostenloses Leih-Lastenrad…) begeistern, während ich die rückerworbenen gut sieben Euro in meinem Portemonnai verschwinden ließ und mich wieder mit wärmenden Klamotten für die Rückfahrt ausstaffierte.

Sonne!

Genüsslich schlenderte ich hinaus – denn mit dieser hätte an diesem trüben Tag wohl niemand rechnen können. Ich schloss die Augen, wandte mich ihr zu, suchte nach ihrer Wärme und bildete mir sie tatsächlich zu spüren wohl nur ein – aber egal: Ich nahm die Freude des gegenwärtigen Momentes wahr, bewusst, wie elend ich mich noch etwa eine Stunde zuvor gefühlt hatte. Nur „raus aus der Situation“, etwa 20 min Radfahrt, Umtausch in kulantem Laden und die Sonne waren dazu notwendig. Es erstaunt mich immer wieder, in welchen Ausmaßen ich mich emotional beeinflussbar erlebe. Und welcher minimale Auslöser zur Richtungsänderung ausschalggebend sein kann.

Wie lange stand ich da? Zwei Minuten oder drei? Egal. Nur das bewusste Wahrhaben des Momentes ließ mich innehalten, sonst wäre ich längst weg gewesen, als ich meinen Namen in der Geschäftsdurchsage hörte: Diese solle sich doch bitte an der Information melden…

Ich hatte mein Portemonnai mit Bargeld und allen möglichen Ausweiskarten beim Einpacken liegen lassen – und jemand hatte es an der Information abgegeben. Was für ein Glück! Und meine Freude nahm es bewundernd auf in den geselligen Kreis, den sie gar nicht zu fassen brauchte, weil sich die Familie Glück einfach, eines zum anderen, purzelnd zusammenhäufte.

Neulich 2

Meine Radlampe verabschiedete sich gen Boden. Und mit ihr die befestigendende Schraube ihrer Halterung. Unwillig öffnete ich die verschweißte Verpackung der baugleichen Zweitlampe und ersetzte das verlustige mit dem dort enthaltenen Stück.

Ich mag den kleinen Fahrradschuppen, der den Mitarbeitern und, weil beleuchtet, den Rehabilitandinnen vorbehalten ist. Er vermochte es in der wärmeren Jahreszeit, besonders wochentags, kaum, alle Räder zu beherbergen. Nun aber, in den Zeiten des kühlen Schmuddelwetters, gibt er mehr Raum und Boden frei, auch für das Laub der umgebenden Bäume.

Die verlorene Schraube brachte mich dazu, im Schuppen aufzuräumen. Sie brachte mich auch dazu, mit einem extra für diesen Zweck erworbenen Magneten unter den Radhaltern zu suchen. Aber sie ließ sich einfach nicht auffinden.

Schließlich hatte ich glückliche Momente, als ich in der Holzwerkstatt um Hilfe fragte und, neben einer gleichwertigen Schraube, auch Freundlichkeit, ein Gefühl von gemeinschaftlicher Verbundenheit und selbstverständliche Unterstützung geschenkt bekam. Was für ein Gewinn durch einen vorangegangenen „Verlust“!

Ist schmunzelige, übertrieben huldvolle Großzügigkeit Folge von Glückserleben? Egal. Das gierige Schaubenverschlucken jedenfalls habe ich dem Schuppen im Zuge all dieser Erkenntnisse ganz einfach, fast wie nebenbei, verzeihen können 😉

Heute

…radelte ich mal wieder in den Baumarkt. Ich hatte die Nase voll von den viel zu großen Arbeitshandschuhen, die ich vom „Arbeitgeber“ ausgehändigt bekommen hatte mit dem Hinweis, ich müsse diese aus arbeitsschutzrechtlichen Gründen immer tragen. Heute hatte ich die Muße und das Wetter, quer durch die Stadt zu radeln. Und wieder besserte sich in vorfreudiger Hoffnung die Stimmung.

Freundlich und hilfreich war die Auskunft des Mitarbeiters an der überfüllten Information. Und in bedachter Sorgfalt wählte ich ein günstiges, aber passendes Paar. 

An der Einpackstation dachte ich irgendwie zufrieden an die schönen Begebenheiten neulich, als mir dieser Ort erneut ein Erlebnisgeschenk der besonderen Art machte:

Ein Werbeluftballon zerplatzte unvorhersehbar und, natürlich, laut. Zwei gerade daran vorbeilaufende, kleine Mädchen schrien verschreckt laut auf und begannen, für meine Ohren vielleicht eine Nuance zu hysterisch zwar, aber doch herzzerreißend zu weinen.

Ich nahm meinen Impuls wahr, mich abzuwenden. Ich spürte Scham wegen dem vermutetem Intimitätsbedürfnis der Kinder.

Sie waren in Not, aber nicht hilflos: Ihre Eltern waren bei ihnen. Sie waren ganz bei ihnen und wirkten völlig entspannt. Genau diese Entspannung und vollkommen wirkende Sicherheit, mit der sie sich ganz ihren Kindern zuwandten, bewirkte, dass ich dabei bleiben konnte.

Es war eine Szene, vor der ich mich sonst ganz sicher abgewandt hätte.

Ich hätte eine Abscheu bemerkt, vielleicht sogar Spott. Ein Genervtsein, das ich damals dem Schreien der Kinder zugeordnet hätte. Welch ein Geplärre!!! Ganz sicher hätte ich den Impuls gehabt, mich hektisch und in getriebener Unruhe entfernen zu wollen.

Nun aber, durch den sich selbst und ihrem Tun vertrauend wirkenden Eltern aber, durften Scham und Genervtsein beiseite treten.

Und da war sie, die traurige Schwere, und machte mir bewusst: Viel schlimmer als die Töne der Kinder ist mein eigenes, unerhörtes Bedürfnis nach Trost und Zuwendung, nach dem Gefühl der geborgenen Sicherheit. Vor diesem bohrenden, emotionalen Schmerz des unstillbaren Verlustes hätte ich mich sonst abgewandt, und zwar mithilfe, und nicht in Spott, Unruhe, Genervtsein…

Denn Dank des wohligen Augenblickes konnte ich einfach nur zusehen und mich freuen über das Glück dieser unglücklichen Mädchen, so große, ruhespendenden Arme und Körper und Stimmen und Eltern zu haben, die ihnen in ihrem Schock beistanden. Jedes Kind hatte ein Elternteil für sich. Kein Wort, kein einziges, winziges Körpersignal zeugte von mir altbekannten, erwarteten Bitterkeiten meiner, in meinen geglaubt erlebten „Wahrheiten“ zeigten sich:

„Psscht!!!!!“

Finger vor dem Mund. Schreckverzerrte, aufgerissene Augen. Schamvoll, peinlich berührtes Umherblicken.

„Pssst, sei still“, „ist doch gar nicht schlimm“ oder gar „stell Dich nicht so an“, „schäm‘ Dich!!!“, „was sollen denn die Leute denken“

–  sondern diese, sich sicheren Eltern lebten einfach nur: „Ich bin ja da. Komm und bleib. Ich bin da, so lange, bis es wieder besser ist.“ Summen. Zustimmen zum Leid – ohne Überwertung. Eines der Mädchen hatte den Impuls zum anderen Elternteil zu gehen. Auch dort war es willkommen. Und dann wurden heulend die Eltern getauscht, so dass sich jedes der Mädchen bei beiden Körpern versichern konnte, dass mit ihrem Unglück alles in Ordnung ist. Dass sie, trotz und mit allem, völlig in Ordnung sind. Sie hatten Grund, verängstigt zu sein und sie durften es so lange sein, wie sie es wollten.

Diese Szene war so schön, dass ich es doch nicht schaffte, sie bis zu Ende anzusehen. In einem Moment, in dem sich das Maß der Berührung richtig anfühlte, konnte ich gehen. Nicht hektisch, nicht geduckt, nicht genervt. Aufrecht. Wach. Nach innen schmunzelnd.

Kann ich verdeutlichen, was für ein schönes Geschenk das war?

Bewundert radelte ich zurück. Stellte mein Rad in den Schuppen. Dachte zu Boden blickend daran, dass ich ihn ja mal wieder entlauben könnte – und…

entdeckte die Schraube.

Freiburg, 29.12.2019

gefälligst

4:30 Uhr. In der Dusche war natürlich das Fenster nicht geschlossen, die Heizung nicht aufgedreht.

In der Küche lagen überall Krümel, Zuckerreste, die Spüllappen geknäult und auf dem Boden verbrannte Backpapierreste. Geschirr auf, nicht in der Spülmaschine. Warum bloß?

Natürlich war, trotz vorheriger gegenteiliger Beschwichtungen, auf dem Bauhof die Zugangstüre zur Damenumkleide noch nicht offen und ich musste nochmal zurück, um einen Schlüssel zu besorgen.

Mal sagt M. „issschoh guhd soh“ (und ich muss Dreck liegen lassen), mal weist er mich auf ein Blättlein Laubes hin, das ich versäumt habe, zu entfernen.

Mal werde ich aufgefordert, langsam zu machen. Mal macht man mich auf Wasauchimmer (übertriebene Gründlichkeit, Ungeschicklichkeit, Tempo?) aufmerksam mit dem Satz „woischd, wiear müsse au weidah“ (wobei ich die planmäßige Freitags’arbeit‘ sehr wohl schon abschätzen kann… *grrr*)

Sylvesterdreck an Straßenecken. Haben die nicht gelernt, ihren Mist wegzuräumen? Zündschnurkäpplein für Zündschnurkäpplein. Kronkorken, Scherben, Knallerpapier. Raketenhölzer (kann man so schlecht auffegen…).

Gegenwind macht mir die Heimfahrt kraftverzehrend.

Blöd geparkte Fahrräder im Schuppen.

Kaffeeflecken im Treppenhaus. Warum machen die ihren Dreck nicht weg?

Reste vom 10 Uhr Kaffeetrinken. Ich erinnere mich (natürlich nur) daran, wie gemütlich das sein kann (nicht daran, wie oft ich diesen Rahmen verlassen musste, weil… ). Rehabilitanden versitzen in der „Beruflichen“ gesellig ihre Zeit. Abschlussrunde in der Textil- und Holzgruppe. Die ersten schwatzen schon in der Raucherecke. „DIE haben’s gut“

Brieffach: Leer.

Küche: Wie gehabt.

Speiseplan: Schlonziger Großküchenfraß wie üblich.

An der stinkenden Mitrehabilitandin muss ich auch schon wieder vorbei.

Und natürlich kann ich mein Fenster nicht aufmachen, wird doch die „Musik“ auf dem Raucherhof rücksichtslos aufgerissen…

Kurz:

Ich bin so sauer. Wütend. Grolle mit… Gottundderwelt (die genau so ist wie immer).

Und ich will mich nicht drum kümmern. Ich will nichts mit dieser Wut zu tun haben. Die sollen gefälligst anders sein damit ich diese Wut nicht haben muss.

Auf dem Weg zur Waschmaschine passiere ich die Duschen und ich weiß 100%ig, dass „die“ ganz sicher wieder nicht…

… aber nein. „Die“ haben daran gedacht und das Fenster in der Dusche geschlossen, die Heizung auf „5“ gedreht.

Dann wüte ich eben über meinen Pessimismus, über meinen kleinherzigen Groll, mein kleinfurziges Allesbesserwissertum. Über diese Enge im Erleben, diese Verschlossenheit, diese Unliebe, diese Entwertungen,… Zähneknirschend. Ja, um Zahnarzt, Bewerbungen, Bankenzugänge, Terminplanungen, etc. müsste ich mich ja auch noch kümmern.

Wäre ich nicht so grollig.

Oder einfach: Erschöpft. Ruhe- oder – schlimmer noch: – zuwendungsbedürftig…? Bedürftig nach dem Gefühl in Sicherheit, geborgen, richtig zu sein…

Und: Um was man sich, wenn man sich selbst so schön verärgern kann, noch nicht alles nicht kümmern muss – oder glaubt, nicht kümmern zu können…

Danke, Ihr Arschengel.

Also kümmer Dich. Fang‘ an. Erstmal knurren. Heulen oder Jammern. Weiteratmen. Und dann. Kümmer Dich. Eine Kleinigkeit erledigen. Etwas der Welt geben statt von ihr verlangen, fordern, vermissen.

Womit fange ich an? Na klar…

Schlonzfraß.

Mittagsschlaf?

Einer von „denen“ wird mich schon stören 🙂

Gefälligst.


18:06 Uhr:

Das Essen schmeckte natürlich ‚irgendwie’und war gar nicht so schlecht. Nein, keine Mittagsschlaf. Arbeitsklamotten waschen.

Das Gemeinschaftsputzen überlebte ich knapp. Und meine Mitmenschen mich auch.

Irgendetwas brachte ein paar meiner Tränen zum Laufen, während wir telefonierten. Danach ging es meiner Wut auch schon ein bisschen besser.

Ich ging in den Fahrradschuppen, machte Ordnung, befreite ihn vom Laub und meine Fahrradkette von schabgeräuschenverusachendem Schmutz. Ich weiß, wie sehr ich mich darüber freuen kann, wenn sie geschmiert läuft. Und darüber, Platz zu haben, wenn ich in den Schuppen komme. Und dann stelle ich mir einfach noch vor, Hr. S., der Hausmeister, den ich sehr mag, freut sich über meine dortige freiwillige und hoffentlich auch für ihn willkommene Betätigung.

Ich verschaffte mir also ein bisschen Wohlgefühl.

Und beim Kaffeetrinken saßen zu meiner Freude schon A. und J. da. Die zwei Mitrehabilitanden, bei denen ich mich momentan am sichersten fühlen kann.

A. ließ sich von mir auch noch mit Häkelzeug und einer groben Anleitung helfen.

Ich bin dankbar.

Gleich ist auch noch die Selbsthilfegruppe. Ich kann es für möglich halten, willkommen zu sein. Sie hat mich zumindest nicht ausgeladen…

Ich freue mich auf sie, ihren Raum, die anderen Willkommenen, den sicheren Rahmen der Regeln.

Und ich freue mich auf das leise, aber satt klickernde Geräusch der Fahrradkette –

mir gefälligst

Freudeln

Freude fühlt sich so schön an, das ich glaube, Distanz zu brauchen, um mich damit vor dem (darauf) Hineinfallen schützen zu können.

Ich nenne die Freude des gegenwärtigen Momentes deshalb „bemerkwürdig fremdschön“, fühle sie staunend an und übe mich im Glücklichfühlen.

Wähle Buchstaben, lasse sie sich zu Worten finden und lade die Erinnerung ein, sich in den Räumen darin und dazwischen niederzulassen.

Es gibt das Wort ‚fremdeln‘.

Ich freudel gerade.

Dasselbe

Ich habe das Gefühl, mich entschuldigen zu müssen bei Euch, meiner keinen Handvoll treuen Lesern.

Oder ist es bei mir selbst?

Was brauchst Du, Gefühl der Scham?

Welches Bedürfnis habe ich?

Charlotte braucht Sicherheit. Sie lässt mit Mitgefühl von mir ab. Aber ohne die beiden fühle ich mich alleine… schaue auf das Geschehen, dränge mich dazwischen, habe Angst, verlassen zu werden – von beiden.

Was bleibt, wenn beide mit sich beschäftigt sind?

Leere und das Gefühl des Kleinalleineübrigseins. Die Weite des übrigen Raumes zwar, aber das Zögern durch Angst, alleine zu sein.

Ich schreibe diesen Blog für mich. Das ist wahr und auch nicht, sonst schriebe ich Tagebuch und keinen Blog.

Ich schreibe diesen Blog. Punkt.

 

Es stimmt, dass ich seit Jahren dasselbe schreibe.

Und es stimmt nicht.

Was stimmt für Dich?

Charlotte, Du machst Dir Sorgen. Hier und heute gibt es keinen Grund für uns zur Beunruhigung. Wir sind in Sicherheit. Wieder und wieder. Jetzt. Das, was ich schreibe, ist mir wichtig. Ja, es mag sich wiederholen. Ich bin noch nicht weiter oder es fühlt sich oft nicht so an für uns. Du magst mich beschützen wollen. Nun aber entscheide ich, dass ich das Geschriebene den Menschen zumuten kann, die diesen Zugang mit mir teilen wollen. Ein paar Treue kommen gelegentlich vorbei. Aber auch wenn jemand fehlt oder schweigt, bleiben wir in guter Erinnerung verbunden. Ja, es ist traurig und es macht Angst, wenn jemand geht oder nicht (mehr) mitliest. Es verunsichert Schlimm. Und wir lassen sie trotzdem in Liebe und Vertrauen „frei“, denn da gehören sie hin! Und wir schreiben weiter. Blind, aber mutig einen Schritt ins Vertrauen setzend.

Momentannahme

Der Moment:

Gedanken:

Ich schaffe es nicht, ich habe nicht genug, ich kann einfach nicht. Es ist mir zu viel und ich habe zu wenig…

…und dazu gesellen sich die Gedanken der erniedrigenden Selbstverurteilung.

Körper:

Ich kreise auf kleinem Raum. Bin unruhig, getrieben, planlos. Sehe eng, vor und unter mich.

Gefühl:

Ich fühle mich klein. Zittrig. Auf der Hut. Gehetzt und komme doch nicht vom Fleck. Es fühlt sich nicht gut an.

Urteil:

Ich will „das“ nicht haben. Das muss weg. Das soll weg. Ich muss es wegschaffen. Ich muss es schaffen.

Ich muss es schaffen → siehe oben „Gedanken“ ⇒ Gedankenkreisen…

Folge:

Selbstverstärkung des Befindens.


Annahme des Momentes:

Was kann ich für Dich tun, Gefühl?

Du fühlst Dich nicht gut an.

Was fühlt sich jetzt – für Dich – so an, dass es gut sein könnte? Dir fehlt etwas. Was brauchst Du?

Was brauchst Du, was die Unruhe, was braucht der enge Blick, was brauchen die Gedanken, die glauben, „es“ nicht zu schaffen?


Auflösung des Beispielmoments:

Raus! War die Antwort meines Gefühls, der ich folgen konnte.

Ich ging raus, testete die erstmalig von mir selbst eingebauten Hinterradbremsbacken auf dem Weg zur Beschaffung einer neuen Frontglühbirne. Genoss den Rückenwind und stellte mich in die Sonne. Nahm den Anruf an, der mich erreichte. Spürte die Freude und die Dankbarkeit. Übte humorige Milde und Mitgefühl mit den Famileneinkäufen, die ich tätigte. Kam rechtzeitig zum Kaffeetrinken: Heißer Kaffee mit von Hand gebackener, weihnachtsgewürziger Linzer Torte, Menschen, in deren Nähe ich mich entspannen kann. Vergab mir.

Vergab mir? Ja. Genau so wie es für den Moment eben war. Mehr ging nicht und deshalb gab ich dem Maß das Recht, genug zu sein.


Erfolgreiche Therapie besteht für mich darin, mir selbst vertrauen zu lernen, dass auch das Unbegreifliche, das Befürchtete, das Unannehmbare – das auch das zu bewältigen ist, das im Zustand der unsichtbare Vorahnung zum Erstarren führt.

Dass ich es wieder und wieder schaffe, es zu durchleben, auch wenn es sich immer wieder neu glaubhaft überwältigend unerträglich anfühlt.

Ich muss nichts dagegen machen. Dagegen kann ich wirklich nichts machen, denn es ist ja schon da. So gesehen stimmt das Gefühl, machtlos und zu klein zu sein und auch Opfer von der Überwältigung von Gefühlen bleiben zu müssen. Mein vegetatives, nicht zu beeinflussendes Nervensystem signalisiert „Gefahr“, auch wenn keine besteht, und „Schlimm“ folgt ihm, statt mir.

Ich habe also das Gefühl, einer Gefahr machtlos erlegen zu sein.

Aber es ist nur ein Gefühl.

Es ist nicht wahr, auch wenn es wahrwirklich da und für mich wahrnehmbar ist, muss es nicht handlungsleitend wirksam sein.

Statt nach Beweisen und Gründen für diese Gefahr zu suchen, oder mit Wegen, etwas gegen das Gefühl der Bedrohung zu tun, darf ich mich damit beschäftigen lernen, trotz und mit diesem Gefühl etwas tun zu können. Etwas für meine Angst, Traurigkeit, Sehnsucht oder Wut zu tun, heißt eine neue Position zu finden, ohne mich von ihr trennen zu müssen. Von ihr trennen müssen, heißt einerseits Gründe für ihre Existenz im Außen zu finden, Schuld zuzuschieben oder Verantwortung abgeben zu wollen („Ich kann mich nicht um Dich kümmern, du bist mir zu groß“). Andererseits kann ich mich auch trennen, indem ich sie verdränge, zudröhne oder mich bzw. sie entwerte.

Das Gefühl ist, wie es ist. Die Bewertung des Gehirn ist, wie sie ist – es spielt sein Programm ab.

Und ich darf lernen, die Bewertung der Bewertung zu lassen oder zu verändern. Es gibt ihn, den Weg, der mich dabei bleiben lässt in der Verbindung von Zustand A zu Zustand B. Und es geht nicht um das Resultat, es geht um die Einladung des schmerzenden Gefühlskörpers, zu entspannen. Herauszufinden, was er dazu braucht. Und den ausdauernden Mut, die damit verbundenen Aktivitäten, Gesten, Berührungen oder gelenkten Gedanken in die Tat umzusetzen. Moment für Moment der Freundlichkeit und Milde Raum geben.

Amen 🙂

Wunscherfüllung

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Der Wunsch, der Dir entstammte, traf mich.

Mehr und mehr Nähe zu…

dem „Ausderseeleleben

wünschtest Du mir.

?!?
.

Aus der Seele leben!? Wie soll das gehen?

„Theoriegelaber…“

wallte Wut in mir auf.

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Dem Erleben, dem Urteil, dem Wollen.

Dem Sein (schlicht) sein Sein lassen.

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Ich denke gerade an Dich. Und wünsche mich Dir nah…

?

Nein. Passt nicht ganz.

Stimmiger: Ich wünsche mir mein Gefühl der stillen Verbundenheit, der Möglichkeit des Vertrauenkönnens nah

(indem ich jetzt an Dich denke…)

.

Somit ist der Wunsch im schlichten Wunschsein erfüllt.
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In vielerlei Licht
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