Schmutzig?

Ich schaute zum Fenster.

Nahm an den Häusern vorbei den blauen Himmel wahr.

Weiß wie Schäfchenwolken

hoben sich die Abdrücke einer kleinen Hand davon ab, die vielzählig auf der Scheibe verteilt waren.

„Die habe ich gemacht!“ poltern sie für mich heraus und ich stelle mir die hier ansässige kleine Tochter vor, wie sie stolz ihre Mutter anlacht.

„Das da ist meine Hand!“

Hier bin „ich“ und darf ich sein, darf ich bleiben, darf meinen Abdruck hinterlassen, bin willkommen. Und das ist gut und selbstverständlich so.

Ich sagte es der Mutter zum Abschied, wie schön ich das finde, was ich mit diesen Abdrücken ihrer Tochter verbinde.

Und sie freute sich.

„Ach, weißt Du, ich finde sie auch schön,“ sagte sie lachend, „aber meine Mutter sagt immer, die Scheiben seien schmutzig!“

Ich lächele noch immer über die befreiende Enge meiner beschränkten Wahrnehmung

– habe ich doch gar keinen Schmutz gesehen.

Zwanzigfünfzehn

20:15 Uhr. Bettfertig. Kontaktvorfreudig.

Die Beleuchtung im Zimmer ist schon gedämmt. Ich finde es angenehm warm. Ich kenne einige Menschen, denen es sicher zu warm wäre. Überheize ich? Verbrauche ich zu viele Ressourcen? Ich brauche die Wärme zum Ankommen, zum „Landen“ im Tagesende.

Später aber, in der Nacht, freue ich mich über den Schein des Mondes auf den Boden meines Zimmers und die frostige Luft, die sich hier verbreiten darf – genau so lange, bis es mir selbst unter der Decke zu kalt um die Nase wird.

Aber das liegt in der Zukunft.

Es ist 20 Uhr 15 und ich bin in Schlafklamotten. Muss ich mich schämen? Was soll diese Frage überhaupt? Naja, ich habe sie mir gestellt und beantworte sie mir mit einem „Nein“, möchte mir aber die Mühe geben, es mir nochmal genau zu verdeutlichen, dass ich mir Ruhe gönnen darf und froh darüber sein könnte, so ich sie mir zugehörig fühlen könnte.

Zwar wache ich nicht mehr automatisch um 4:30 Uhr auf, aber einen Wecker brauche ich hier nicht. Heute war es so gegen 6 Uhr und ich kann mir meine Zeit lassen, aus dem Bett zu kriechen. Ich brauchte eine gute Weile, bis die Wirkung des frisch gebrauten Instantkaffees und die gefühlt notwendigen Nachbereitungen der Nacht und Vorbereitungen für den Tag so weit gediegen waren, dass ich mich in den Fitnessraum verabschieden konnte. Jalousien runter, Musik an. Das WLAN war heute schwächelnd, so musste das Morgenmagazin als Orientierungshilfe mit Berieselungsfunktion herhalten, während ich mich in der verbleibenden halben Stunde ins Körperspüren brachte. Crosstrainer, Seilspringen, Rudergerät, Schwingstab, Hula Hoop Reifen zur „Belohnung“ :-). Alles nur ein paar Minuten… Aufrecht und bewusst gehen wird mir damit möglich.

Schnell unter die Dusche, Reisekaffee, Sachen packen, pünktlich um 8:30 Uhr war ich in der „Beruflichen Betreuung“ ein Stock tiefer.

Fr. S. frug mich mit dem Blick auf den Kopfhörer, ob meine gestrigen Methoden zur Erweiterung der Stresstoleranz gewinnbringend waren. Ja, schon. Und ich hatte mich auch schon weitestmöglich entfernt von der Mitrehabilitandin gesetzt, deren Körpergeruch mich ekelt, was widerum die innere Familie zu den immerselben Dramaserienfolgen inspiriert. Der Geruch war dennoch wahrnehmbar… ein  bewusster Schluck Kaffee. Und Minzöl habe ich notfalls auch dabei.

Eigentlich muss ich mich dringend um einen Praktikumsplatz in der Pflege bewerben, aber die Unklarheit sträubt mir das innere Klettpflanzenfell. Wenn ich nur wüsste, um welche Sorte es sich wirklich handelt! Ist es der Widerstand gegen mich im Beruf allgemein oder ist es der Widerstand gegen die Erinnerung an vergangenes Erleben, mit dem ich nun vielleicht besser klar kommen (lernen) könnte? Der Beruf an sich ist ein schöner Beruf. Vielleicht gibt es Nieschen für mich, wenn ich nur wüsste, ich dürfte sie auch für mich nutzen und könnte sie ausfüllen. Um mir darüber klarer zu werden, mache ich das Praktikum. Nicht, um mich zu etwas zu zwingen. Ob ich überhaupt zumutbar bin für die Menschen, die Betriebe? Zwei große Psychiatrien haben meine Anfrage dankend abgelehnt. Nun bleibt nicht mehr viel… „Buchenbach“, die anthroposophische Psychiatrie, treibt mir Ehrfurcht ins Erleben. Ich möchte zur Kontaktaufnahme gut vorbereitet sein.

Aber erstmal entschied ich mich an der Gruppe teilzunehmen, die sich heute mit dem Thema „Lernmethoden“ beschäftigte. Wir waren zu dritt. Ich stellte den anderen den „motorischen Lerntypen“ vor und spürte in der kurzen Vorbereitungszeit die Freude über meine Ideen, mit denen ich das vermitteln wollte. Die kindliche Aufregung bringt Verunsicherung in die Hülle der Alten bzw. die, an die Anforderungen, Erwartungen einer Erwachsenen gestellt werden. Im kleinen Rahmen konnte ich zufrieden mit mir sein.

Die Aufregung aber blieb… („Fr. Nies, Sie wissen, Sie brauchen manchmal etwas länger als die Mehrzahl der Menschen, um auf normale Stresslevel zurück zu kommen.“)

So fand ich in der Kaffeepause nur im Rückzug Sicherheit, zumal „natürlich“ der Kaffee leer war, der Nachschub unverständlicherweise unter Verschluss und die dafür Zuständigen entspannt in der Sonne sitzend. Ich wollte nicht stören und tue ich mich auch ’so‘ schon schwer genug mit selbstsicherer, angemessener Kritik. Ich hörte mir spöttisch verachtend zu.

Beruhigungstee war auch passender als Kaffee…

Dann diese Email! Der Pflegedienst „Ich und Du“, der das für das deutsche Pflegemodell revolutionäre, aber dort erfolgreiche Prinzip von „Buurtzorg“, also praktisch organisierte Nachbarschaftshilfe, aus den Niederlanden versucht, in Freiburg zu integrieren, lud mich ein kostenlos, am eigentlich 295,-€ teuren Eintagesworkshop am kommenden Montag teilzunehmen. Wie soll ich dieses Gefühl beschreiben? Ich musste es sofort den Beraterinnen erzählen und die freuten sich einfach gründlich – wobei bei mir Staunen und Zweifel mitschwingen – aber die Freude behielt ich mir und sagte dankend zu, während mich die Gedanken daran bis jetzt nicht verlassen, ob es wohl angemessen ist, zumindest ein paar Pralinen oder sowas mitzubringen – einen selbstgebackenen Kuchen? – welchen? Ich rätsele.

Die Zeit bis 12:15 Uhr verflog. Schnell was essen und rauf aufs Rad. Ich kam pünktlich um 13 Uhr zur ASF, meinem ca. neunwöchigen „Arbeitgeber“ von Dezember bis Januar. Mittwochs haben wir hier immer Bürotag, aber ansonsten war ich täglich von 6 bis max. 12 Uhr dort und arbeitete in verschiedenen Bezirken bei der Straßenreinigung mit, so gut ich konnte. Ich erhielt dafür viel Anerkennung und ein wirklich schönes Zeugnis, über das ich mich, besonders als „Kleine“, innig freuen kann. Aber auch „die Große“ kann zufrieden mit sich sein. Man wolle sich aber nochmals – zusätzlich zum Abschlussgespräch – persönlich von mir verabschieden. Ich spürte meine Verunsicherung in der Vieraugensituation mit dem Personalchef. Was ist angemessen zu erzählen? Warum erzählt er mir Dinge aus seinem Leben? Was will er wirklich von mir hören? Es ging vorbei. Ich hielt eine handgeschriebene Dankeskarte, einen Einkaufsgutschein in der Hand und eine Flasche Wein mit Logo, die ich noch im Auto verstauen muss…

Aldi. Beloh-ruhigungsgebäck. Sonne. Sonne. Sonne. Blauer Himmel. Mein Fahrrad. Richtig temperierte Klamotten…

Die Wohngruppe war schon am Freitagsputz. Ich hatte mich entschuldigen lassen und darum gebeten, den „Selbstversorgerraum“ später selbständig reinigen zu dürfen.

Diese wöchentliche  Zimmerkontrolle regt mich auf. Es fühlt sich an, als dränge man in meine Privatssphäre. Als könne man mir nicht vertrauen. Das macht mich wütend – aber die Einsicht ist ja auch da. Das Dulden aber ist ein „Müssen“ und das macht es so schwierig. Und dann zückte auch noch diese kindliche Praktikantin in Krankenpflegeausbildung, die sich mir noch nicht mal vorgestellt hat, ihren Kuli und unterschrieb mir meinen Wochenplan als „korrekt erledigt“… was für mich schon was hat von menschlichem Wertigkeitsgefälle bzw. mangelndem Einfühlungsvermögen der Beteiligten… o.k. Augen zu und durch… ich muss doch nicht alles diskutieren und ansprechen….

Ich unterhielt mich mit zwei hier tätigen Krankenschwestern meines Alters, während ich den Selbstversorgerraum putzte. Das kommt extrem selten vor, dass sich sowas ergibt. Genauer gesagt: Es kam noch nie vor. Ein eigentlich entspanntes, freundliches, fast kollegiales Gespräch. Es ging um meine berufliche Zukunft und den Workshop am Montag. Ein komisches Gefühl aber bleibt… „was stellst Du Dich so an… geh‘ einfach wieder arbeiten… alles nur Getue… Du hast keinen Grund, es ist nicht schlimm, Du stellst Dich nur was an….“ sagt diese Stimme, die ich, so eine leise Hoffnung, immer besser von mir abgrenzen kann. So ein mieses, komisches Gefühl aber bleibt.
Die Idee zum und der kurze Ausflug in die Kühle des Radschuppens zwecks Laubentfernung tat mir gut.

Schnell ein paar Emails. Kaffeetrinken. Ich war am Kuchenbacken beteiligt und einfach neugierig auf das Produkt. Schön, ein Platz neben A. war frei. Darf ich? Nerve ich nicht? Bin ich zu anhänglich? Nur weil ich meinem Gefühl folge, dass ich mich dort wohl- und willkommen sein fühlen könnte? Wir albern oft. Diesmal traf sein Scherz das Umfeld meines Marks. Ich setzte mich trotzdem. Oh, wie schön, dass J. noch dazu kam. Der Kuchen schmeckte. A. schimpfte, dass wieder ich mich um das Aufräumen kümmerte, statt Tischtennis zu spielen. Motivationskonflikt. Ich ging raus, aber die Tischtennisplatte war besetzt und ich räumte weiter, bis mir einfiel, ich muss ja dringend los, wollte ich doch an der frühen Selbsthilfegruppe „ehrliches Mitteilen nach Gopal“ teilnehmen… Leider konnte ich A. nicht mehr Bescheid sagen, warum ich mich nicht mehr blicken ließ.

Die Sonne schien noch immer. Was für ein Tag! Ich kam pünktlich. Ich mag den Raum und die Menschen dort. Die Ruhe. Es erging mir ganz gut, was nicht immer der Fall ist.

Ich muss die Schaltung einstellen… aber die verbleibenden Gänge schnurren. Lidl. Glücklich über meine Auswahl, stellte ich an der Schlange stehend fest, meinen Geldbeutel nicht dabei zu haben. Also hin und her radeln… die Zeit verrann. Ich verschob das Telefonmeeting um 15 Minuten.

20:15 Uhr. Kontaktvorfreudig und bettfertig.


 

Nein, ruhig schlafen konnte ich nicht wirklich. Auch die Bedarfspille half nicht wirklich. Nachts musste ich mehrfach raus.

Und zwei Mal freute ich mich über meinen Nasenfrost – bevor ich das Fenster wieder schloss.

Zwei Wolken

Auf dem Rückweg vom Praktikum präsentierte sich neulich eine Wolke über der Stadt Freiburg – und somit auch mir. Ihre Form und Ausdehnung im Verhältnis zu meinem Blickwinkel gaben wohl den Ausschlag, mich spontan und sehr konkret an eine andere Wolkenbegegung zu erinnern…

„Egal!“

Meine Beine traten unbeeirrt weiter in die Pedale  – ein genervtes „nimm’s nicht so wichtig“, „ja, hab’s ja gesehen“ oder eher fliehkräftiges „genug davon“„nur weg“ im Sinn…?

Nein, dieses Mal nicht:

Ich hielt an und machte ein Bild dieser Wolke über Freiburg zur Mittagszeit am Montag, 27. Januar 2020:

Und dies ist das Spiegelbild meiner Erinnerung:

Eine Wolke, deren Erscheinung ich am, 16. Mai 2017 zugegen war. Meine Recherche sagt, es sei ein Dienstag gewesen. Ich war „unterwegs nach Hikertown“ (Link) auf dem PCT.


Es ist eine Art Schmerz, der noch heute oft dabei entsteht, wenn ich mich an meine Zeit auf dem PCT erinnere.

Es ist nicht so, dass ich mich nicht an ihn, den Weg, erinnern möchte. Im Gegenteil. Es zieht mich immer wieder dort hin. Ich habe ihn bei all der Intensität meines dortigen Erlebens so sehr verpasst. Ich glaube, alles vergessen, gar nichts wirklich wahrgenommen zu haben. Ein „ich hätte sollen, müssen, besser, anders sein…“ schwebt in der Luft. Ein „ich mag gar nicht daran denken“…

Oh, an die Wärme und all das mag ich denken. An die tollen Menschen dort. An die Chance, die ich wagte zu ergreifen.

Und: Ich mag auch nicht daran denken. Denn der Schmerz sitzt überall. Dort beim Selbstvorwurf beispielsweise, nicht hart genug mit mir gewesen zu sein. Oder bei den Gedanken an die verpasste Chance. Auch vermeide ich es lieber, mich bewusst an die Verzweiflung zu erinnern, die ich dort zeitweise durchlebt habe. Sie könnte womöglich wiederkommen? Wäre ich nun gewachsen, sie zu versorgen? Könnte ich jetzt mir gegenüber genug Vertrauen aufbringen, mir gewachsen zu sein?

Und dann noch dieses Sammelsurium von Wut auf mich selbst…

Ich „muss“ mir verzeihen. Mir vergeben. Es betrauern.

Selbst, wenn ich es könnte: Und dann? Hinter den Tränen liegt ja doch nur wieder Sehnsucht mit ihrem…

 

Vielleicht muss ich diesen Traum begraben, mir zu vergeben sei möglich.

Und der doch tatsächlich immer wieder, zu allen möglichen Geschichtenbasteleien, Begegnungen, Erlebnissen oder gar Phantasien aufkeimenden Hoffnung mit aller Macht ihren Lebenssaft entziehen, der sie ständig mit dem Irrsinn nährt, die alten Wunden seien womöglich doch heilbar.


Ich brauche sie, die Hoffnung, im Heute, im Hier und Jetzt. Ich brauche sie, damit es sich irgendeine Idee, ein Plan, womöglich ein Ziel richtig anfühlen kann.


Komm, Hoffnung, lass‘ sie ruhen in Frieden, die „Alten“ (Wunden)… Wir leben schon so lange mit ihnen.

Und, was ist nun mit dem miesen Gefühl bei den Gedanken an den PCT?

Würdigen. Es war emotional so schwer. Die ungestillte und nicht verschließbare Sehnsucht nach Geborgenheit, Nichtfalschseinimlebengefühl, nach Vertrauenkönnen aus meiner Kindheit brach (mir) aus… Ich konnte sie deutlich spüren. Und die Entwertung war zügellos.

Den PCT habe ich verlassen, aber den Weg, den ich nach der Gabelung in Uffenheim nahm, setze ich fort.

Ich bin auf dem Weg.

Und diese beitragsveranlassende Wolke über Freiburg hilft mir vielleicht, „meinen“ PCT und all dem dort mit mir Erlebten mit Respekt und weitmöglicher, liebevoller Anerkennung in die Augen zu sehen.

Ich fange mit einem respektvollen, festen Blick an. Sekundenlang.