Lauge

Ich bin sowas von gesegnet, in dieser Zeit in diesem Land leben zu dürfen, mich trotz mehr als jahreslanger Arbeitsunfähigkeit in finanzieller Sicherheit zu wähnen und physisch völlig gesund zu sein. Bin in eine Familie geboren, in der ich gelernt habe, die Regeln der Gesellschaft befolgen zu können und habe lange Jahre entsprechend den Anforderungen, die an mich gestellt wurden, funktioniert. Habe eine gute Bildung genießen dürfen und einen Beruf erlernt, dem ich lange Zeit nachgehen konnte und in dem ich mich auch in Zukunft wieder einbringen könnte, wenn ich es wollte, weil es auf Dauer so viele freie Stellen gibt und geben wird. Ich kenne wunderbare Menschen, zu denen ich mit meiner Verunsicherung Vertrauen üben gehen kann. Wieder und wieder. Manche werden sogar dafür bezahlt… Und ich habe eine vom Sozialsystem getragene Perspektive, wie es mit mir weiter geht. Ich lebe in einer günstigen Wohnung inmitten dieser Ecke Kleinstadt mit fließend sauberem Wasser, habe es warm und trocken. Es ist Frieden und Wohlstand in diesem Land.

Ich bin sowas von gesegnet.

Heute bin ich geschwommen, Rad und Motorrad gefahren. Das Wetter hat gepasst, die Luft war rein, die Straßen frei. Habe von vielen Menschen Lächeln durch Anlächeln ‚geerntet‘ oder es einfach so geschenkt bekommen. Ich wurde heute mehrfach herzlich, liebevoll berührt und sogar in den Arm genommen. Man hat sich sichtlich gefreut, mich zu sehen, mit mir zu sprechen. Mir so liebe Menschen haben von sich aus, einfach so,  Kontakt zu mir aufgenommen: Was für ein Geschenk, welch eine Fülle! Ist das menschlich wirklich zu erfassen?

Jedenfalls befand ich mich so gesehen heute in einem wohlig warmen Bad der guten Gesellschaft und freundlicher Begebenheiten.

Ich könnte sowas von glücklich sein, rundlich wonnig beseelt.

Das bin ich doch – auch?

Vorrangig aber fühle ich mich gerade ausgelaugt.

Und deshalb schuldig.

Denn da ist noch mehr…

„DU SOLLTEST… sowas von glücklich sein, rundlich wonnig beseelt!“

Ich bin für sie, meine inneren Kritiker, so (einfach) wie ich bin, nicht genug. Ich soll mehr sein, besser sein…

Sie lassen mich ‚einfach‘ nicht in Ruhe.

Was ‚Schlimm‘ entzündet.

Eine Auslaugung ist definiert als die Herauslösung von Substanzen durch ein Lösungsmittel aus einem Feststoff.

Nehme ich die Schuld mal Beiseite und empfehle Schlimm solange in ihre Obhut…

…sortiere also den Lageplan der Verurteilungen neu…

…ergibt sich Neues:

Wo etwas herausgelöst wird, entsteht Raum.

Raum für andere Perspektiven und neue Blickwinkel.

So gesehen gibt es neben den ewigeifrigen Vordränglern „Schuld“ und „Schlimm“ noch weitere herausgelöste Substanzen. Schlichte Müdigkeit zum Beispiel, Erschöpfung, „Geistüberflutung“ – ob ich es will oder nicht. Verwässerte Wut bei all der Anpassung. Ratloses Achselzucken. Hoffnungslosigkeit. Ohnmacht. Das gleichzeitige Spüren, Vermissen und die Ungreifbarkeit von Vertrauen, von Bindung, von Teilsein-Fühlen. Im Feld der Wahrnehmung erscheint auch der Trost der Traurigkeit, die den Schmerz vermag zu lieben – ihn umschließt, verbirgt, versorgt.

Vielleicht braucht die Traurigkeit gar keinen Trost. Sie ist es. Wenn ich sie ganz sehe.

Und das Lösungsmittel, das mir erlaubt hat, das zu erkennen, war dieser wonnig runde, glücklich beseelte Tag mit all seinen Begegnungen.

Auslaugung ist die Herauslösung von Substanzen durch ein Lösungsmittel aus einem Feststoff.

So ist alles richtig – und schon kann mir rückblickend gelingen, was vom Feststoff (oder vom Zähen, Schweren, Klebrigen) übrig bleibt:

Das Lächeln dieses Tages einfach, dankbar schweigend seufzend zu erwidern.

Dem Wunsch der Müdigkeit nach Schlaf zu folgen, und darauf zu vertrauen, dass, wie sie, die anderen herausgelösten Substanzen vielleicht dort ebenso das finden, was sie erlöst.

Ausgelaugtsein ist eine Lösung.

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