Ich höre ihn schon seit Stunden zufällig den Radiosender WDR 4 und freue mich über die Musikauswahl.
Gerade jetzt läuft „I believe in miracles“ von Hot Chocolate… ich stelle mir einen guten Tänzer dazu vor. Was immer das ist. Amy Winehouse hatte mal so zwei Backgroundsänger im Video die ich gerne die ganze Zeit in Großaufnahme gesehen hätte… Egal… ich drifte schon wieder ab!
Denn zuvor wurde von und mit James Blunt „You’re beautiful“ gespielt. Und da fiel mir die Frau gestern im Schwimmbad ein.
Ich hätte ihr es sagen sollen, verdammt nochmal!
Echt jetzt?
Aber.
Ich habe es nicht getan.
Ich denke jetzt an sie. Und habe viel nachgedacht.
Ich widme ihr nicht nur Gedanken. Sondern schicke ihr meine guten Wünsche mit auf ihren Weg.
Sie schwamm kaum. Deshalb sah ich sie so oft. Sie hielt sich an den Beckenrand im Westen und machte langsame Übungen mit Beinen und Rumpf. Sie trug einen türkisfarbenen Badeanzug und ihre langen, blonden Haare hingen bis über die Achseln.
Ob sie darunter rasiert war? Gestern kam mir kein Gedanke daran. Hatte sie, wie so, so viele andere, ein Tattoo? Keine Ahnung. Ich hatte meine Augen woanders.
Mir gefielen ihre üppigen Kurven. Gefüllte Haut. Nicht prall, erdrückend, erstickend. Umfangreich. Gerade an Oberschenkeln und Rumpf. Für mich wohl proportioniert.
Gedanken und Handlungsimpuls:
Mir kam der Gedanke, dass ich sie schön finde. Und auch der Gedanke, dass ich ihr das sagen könnte. Und die Frage, warum ich das nicht getan habe.
Situative Beobachtung:
Kaum bekleidet im Schwimmbad.
weitere Aspekte meiner persönlichen Wahrnehmung:
Sie war übergewichtig und ihre Mundwinkel waren ohne Anspannung. Ihr Blick ging ins Leere. Sie wirkte traurig auf mich.
Vorurteile, Vermeidung und Feigheit, Einhaltung sozialer Regeln – oder Respekt?
Ich glaube zu wissen, wie sich übergewichtige Frauen im Schwimmbad fühlen. Ich gehe von mir aus. Es war für mich immer eine Mutprobe, eine so große Überwindung, ins Schwimmbad zu gehen, dass ich es jahrelang einfach gelassen habe – obwohl ich weiß, wie gut ich mich nach dem Schwimmen fühlen kann. Beispielsweise war ich in Uffenheim nie im Schwimmbad. Ich hatte die Badesachen dabei. Hätte ich ganz, ganz sicher sein können, ganz gewiss niemanden zu kennen, hätte ich es vielleicht wagen können. Aber alleine der Gedanke, irgendjemand, wirklich völlig egal wer, der mich identifiziert, könnte einen Blick auf meinen Körper im Badeanzug werfen, ist mir bis heute sehr präsent nachvollziehbar, nachfühlbar… : Es ist ein grauenhafter, seelischer Schmerz, der durch diese Vorstellung ausgelöst wird. Klingt mal wieder sehr theatralisch, aber ich kann mir vorstellen, dass jeder Mensch so was in sich trägt, so eine angstbesetzte Unvorstellbarkeit bewahrheite sich…
Es ist wie ein Vergrößerungsglas der eigenen Selbstverachtung. Es hat keine Spur mit Realität, Vernunft oder so zu tun, fühlt sich aber an als hätte der Pfeil der Wahrheit bei lebendigem Leib das weiterschlagende Herz getroffen und den Körper angepflockt. Der Atem hört auf, aber man muss weiter leben und sich die Wahrheit ansehen, die man doch immer nur im Geist existent wähnte als irre Unvorstellbarlichkeit.
Wie hätte ich damals wohl reagiert, wie würde ich heute reagieren, würde mir jemand sagen…:
„Entschuldigen Sie bitte, ich möchte nicht respektlos sein, übergriffig oder Sie in Scham versetzen. Aber ich dachte gerade daran, dass ich für mich festgestellt habe, dass ich Sie schön finde. Und ich hatte den Gedanken, Ihnen das einfach mal sagen zu wollen.“
Wie würde es Euch damit gehen?
Klar, es kommt drauf an, wie, wer, wann…
Aber.
Mir wäre es wohl wahrscheinlich so gegangen, dass ich meine Fassade eingesammelt hätte, mich höflich bedankt, wäre errötet, hätte gelächelt…
und innerlich hätte ich sterben müssen, mich ganz schnell „weg“ machen, dissoziieren nennt man sowas auch. Vor meinen eigenen Urteilen und Ängsten verschwinden.
Oder ich hätte mich bittersüß bedankt und innerlich wäre mir die Wut aufgeschwollen. Wie kann die mich so mit meiner Unfähigkeit zu vertrauen in Kontakt bringen?
Ein solches Kompliment beinhaltet in jedem Fall, gesehen worden zu sein. Ein Schreck ins Mark der Seele. So gesehen habe ich meine Feststellung, dass ich sie schön finde, aus Respekt nicht mit ihr geteilt. Ich wollte sie nicht verletzen oder…
…nahm ihr die Freiheit, die Reaktion auf diese Worte meiner Wahrheit spüren zu können.
…nahm mir die Möglichkeit, meine Erfahrungen zu erweitern. Wie wäre es mir ergangen mit ihrer Reaktion?
…wenn ich es gewesen wäre, der sie in eine Dissoziation schickt? …wenn sie mich hohl angelächlt hätte? …wenn sie sichtbar verletzt gewesen wäre? …wenn sie mich angeblafft hätte, was ich mir wohl erlaube?
Gerade gestern haben wir in der DBT Gruppenstunde mit dem Thema „Zwischenmenschliche Fertigkeiten“ begonnen. Je nach dem, auf welchem der Aspekte „Ziel“, „Selbstachtung“ oder „Beziehung“ der Kontakt orientiert ist, wird die Kommunikation anders verlaufen.
Die Beziehung spielt erstmal keine Rolle, denn ich kannte die Frau nicht und hatte auch kein Interesse, sie näher kennenzulernen.
Ziel? Große, unerwartete, also überraschte Freude! Auf beiden Seiten. Aber das ist zu ungewiss durch eine Äußerung dieser Art und Situation zu erreichen. Ich möchte aber auch niemanden verletzen. Weder sie noch mich… und nur um meine Freude zu triggern soll ich riskieren, sie zu verletzen?
…wo wir fließend bei der Selbstachtung wären… ich muss gut auf meine Grenzen achten. Ein Augenaufschlag eines Menschen vermag mir ein Anlass zu sein, mich aus meiner Wärmflaschengeborgenheit in die Landschaft des Selbstzerrisses zu beamen. Das kann in jeder Hinsicht gut oder schlecht sein: Nur durch den dortigen Aufenthalt kann ich wieder und wieder erfahren, dass ich da auch wieder raus und einen guten Platz für mich finde. Aber mir fehlt halt eben noch so oft die Zuversicht, es gelänge mir wirklich. Klar ist es auch Trägheit/Vermeidung. Und es hat auch seinen Reiz, auf meine Verletzlichkeit zu achten.
Also nur um erfahren zu können, wie es sich für mich aus dem Strudel hinausbewegt soll ich riskieren, dass sie ungewollt in einen hineingezogen wird?
…aber wie kann ich wissen, wie es ihr ergangen wäre?
Ich entschied mich zum Schweigen, Denken und: Wohlsein wünschen.
Vielleicht kommt es ja bei ihr an.
Ich jedenfalls kann gerade darüber in Frieden mit mir sein. Und das ist schön. Und ich habe festgestellt, dass ich die Frau („etwas“) als schön empfinde und das einfach für mich stehen lassen.
Also das Ziel der Freude ist bei mir erreicht. Danke, Frau, dass Du im Schwimmbad warst!
Vielleicht mache ich es beim nächsten Mal anders.
Und dann schaunmermal.