Weit weg in Sicherheit?

 

Bild 1: Gefangene Leere

Immaginationsübungen sind ein mir sehr dienliches therapeutisches Mittel. Sie lassen Bilder aufsteigen, setzen sie in Verbindung mit Gefühlen und eventuell erlebten Situationen. In sicherer Distanz zum Drama der Vergangenheit können mithilfe von therapeutischer Begleitung und Anleitung neue Sichtweisen, Denkansätze, Lösungsstrategien und letztenlich Verhaltensweisen entwickelt werden.

Es ist wohl kein Geheimnis, das sich mir Bilder in vielerlei Beziehung sehr hilfreich anfühlen.

Ingrid „führte“ mich an meine Leere, ließ mich zunächst vorsichtig hineinblicken, dann hineinstürzen, holte immaginäre Helfer, die mich auffingen und mich auf meinem Weg hinaus begleiteten. Dann ließ sie mich einen stabilen Zaun drum herum bauen. Einen, der ganz sicher hält. Ich musste und konnte selbst kontrollieren, dass er verlässlich und sicher ist. Und dann sollte ich den Abstand vergrößern. Immer weiter weg, so weit, bis ich in Sicherheit sei und sich der Abstand gut und richtig anfühlt. Nachfühlen. In meiner Vorstellung war da eine Bank, auf die ich mich setzte, um in Ruhe zu atmen. Ich sah, dass es noch viel mehr gab, als das Ding da in der Ferne, vor dem ich mich sicher fühlte. Viel Raum war da, den man nicht sehen kann, wenn man auf etwas stiert.

Die Hausaufgabe bestand im Anfertigen eines Bildes.

Die Rückseite trägt eine Notiz:

„Sommer 2011 / weit weg in Sicherheit? / Gibt es auch einen anderen Blick?


Bild 2: Geschützte Weite

Zur Zeit bin ich eigentlich immer im oder in der Nähe des hiesigen Naturschutzgebietes „Am Weinberg“ unterwegs. Es handelt sich um einen ehmaligen Truppenübungsplatz der Bundeswehr. Der Boden ist von jahrzehntelangem Panzerfahren verdichtet, sodass viel wächst, was sonst nicht darf. Regelmäßiger Pflegebesuch der ansässigen Schafherde schützt die heutigen Trockenwiesen. So kann der Blick bei aller sonstigen Belassenheit in viele Richtungen weit schweifen. Einerseits trifft er immer wieder den Düns- andererseits den Feldberg. Hinter Lahn und B49 ist das Kloster Altenberg. Und dann ist da noch Wetzlar mit der Ruine Kalsmunt und dem Krankenhaus auf seinen Erhebungen thronend, dahinter der Stoppelberg. Im Herbst leuchten die bunten Hecken und Sträucher, die knallroten Hagebutten und die vertrockneten Distelblüten. Champignons brechen sich durch den harten Boden. Und oft bücke ich mich nach einem Halm violett blühenden Thymians, der dank meiner Phantasie noch würziger duftet und schmeckt, als er wild ist. Gestern gab es noch mehrere Züge Kraniche zu hören und sehnend ziehen zu lassen. Dazu der blassblaue Himmel, Bühnenbild des zur Zeit allabendlich an lodernde Glut erinnernden Sonnenuntergangs.


Kein Gebäude auf beiden Bildern. Damals auf dem Bild dachte ich, wie wunderbar weit alles sei: So viel Platz zum Bauen bzw. Erschaffen. Gestern, im Naturschutzgebiet, dachte ich: Wie wunderbar es ist, dass dort kein Platz zum Bauen ist!


Bild 3: Träume vom Wahrwerden

Und wenn ich so laufe, mein Hirn sich von Sonstigem entspannt, füllt es sich sogleich von Neuem. Es webt mit irgendwelchen Spinnereien wunderschöne Netze. Sie spinnen im Schimmer des seeligen Loslassens Träume von ihrer Welt ins Land des Wohmöglichdochwahrwerdenoderseinkönnens. Netze, die sich über die doch unheilbaren Wunden legen, sie zu stillen scheinen können. Der Glaube, es könnte heilen, noch in dieser Welt. Ich versinke immer wieder darin und davon. Es federt so sanft, scheint tragen zu können. Und fühlt sich so wunderbar unwirklich wahr an, als sei ich in der und die Bar der Wunder zugleich.

Bis dort, wo ich wieder ankomme.

Die Netze des Hirns sind nicht lange haltbar. So wenig in der Wahrheit, wie in der Phantasie.

Mein Hirn versucht sich immer wieder im Unmöglichen. Kein Wunder, das ihm sonst so wenig möglich ist.


Gibt es auch einen anderen Blick?

Ja. Nicht nur den damals so wundersamen Blick in die Weite, weg vom Krater der Leere. Sondern auch den in die Nähe: Muss ich mich wirklich vor der Leere schützen? Lässt sie sich fangen wie ein Wildtier? Will ich das? Muss ich sie vielleicht noch mehr vor mir schützen als umgekehrt? So wie eine selten schöne Art Wesen?

Hirn, lass‘ ab. Ich will nichts in dieser Landschaft errichten, nichts vernichten, nichts fangen oder frei lassen. Es ist nichts dergleichen von Wert. Denn dann gäbe es auch Unwert (und der wäre automatisch ich). Will nicht drinnen, nicht draußen, nicht Käfig, nicht Weite oder Boden, nicht Kämpfer oder Opfer sein.

Meine Leere ist nicht zu füllen, nicht zu stillen, nicht zu heilen. Weder von außen, noch von innen. Ich kann nichts tun. Ich brauche nichts tun. Sie darf mich begleiten. Sie darf bleiben, wie sie ist. Neben mir gehen, wie ein Schatten. Oder fern sein wie eine gewiss in und mit mir lebende, aber gerade unsichtbare Wesensart. Gemeinsam ein Ganzes sein. Und jeder seins.

Wahr-nehmen. Nicht wahr träumen, Karin.

So viel zur Theorie.

Ich will sein lernen, nicht mehr sein zu wollen.

Wenn ich (etwas) sein will, bin ich es nicht.

Ich bin…

Ich bin. Basta.

 

 

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