Ich habe den Raum noch vor Augen. Im Erdgeschoss des damals modernen, offenen Schulgebäudes meiner Grundschule war die Aula zu einem kleineren Raum abtrennbar, in dem der Musikunterricht stattfand. Es gab ein Klavier und diese typischen, Stühle aus Pressholz mit klappbaren Schreibauflagen. Ich habe den Raum als hell in Erinnerung. Wir Kinder saßen in einem weiten Halbkreis, kaum drei Reihen hintereinander. Der Boden war bedeckt von diesen glattengeschliffenen, schwarz-weiß gemusterten Steinfliessen. Es war für mich immer mit einer kleinen Aufregung verbunden, in diesen so selten genutzten Raum gehen zu dürfen.
Wie hieß noch diese Lehrerin? Fr. M… ?
Versuche ich mir aus dem nebligen Erinnern ein Bild zu machen, steht das Klavier fast mittig im Raum und das Licht trifft die schlanke, nicht mehr junge Frau von seitlich links hinten. Sie trägt eine große, rundliche Brille mit beigem Plastikgestell. Ihre eher dünnen, blassbeigen, Haare dürfen ihren Kopf ein zärtlich wild wirkend umwirbeln. Ich glaube, sie hatte sie ein bisschen hochgesteckt. Stelle ich mir ihre Kleidung vor, habe tatsächlich vorsichtige Schlaghosen in Erinnerung. Oder einen glatten, wadenlangen, wollenen Rock in Naturfarben.
Es gab Lehrer, von denen wollte ich ganz besonders gemocht werden. Sie gehörte wohl eher nicht dazu.
Sie wirkte genervt und lustlos auf mich. Heute denke ich mir, wir grauenvoll es wohl auch gerade für musikalische Menschen sein muss, Grundschulkinder auch noch singend ertragen zu müssen.
Vielleicht mussten wir deshalb so oft „Peter und der Wolf“ anhören?
Aber ich habe das Singen noch sehr gut in Erinnerung. Wir krakehlten gemeinsam Volkslieder oder versuchten uns im Kanon. Manchmal bekamen Auserwählte – ich nicht – eine Rassel oder einen Schellenring und durften mit musizieren.
Ich kenne die damaligen Lehrpläne einer Grundschullehrerin im Fach Musik nicht. Meiner Meinung nach sollte damals wie heute das Entdecken und Erleben der Freude am gemeinsamen Musikmachen im Vordergrund gestanden haben bzw. stehen, unabhängig von der Qualität des Produktes. Aber die Ziele dieser Frau sahen wohl ganz anders aus, denn zwei ihrer Sätze sprechen Bände davon und haben sich so tief in die Knochen meines Gehirns gebohrt, dass ich bis heute meine Singstimme nicht hören mag und nur mit lauter Musikbegleitung überhaupt in die Welt lasse:
„Irgendetwas brummt hier…. Karin, sei mal ruhig. Ah, jetzt ist es besser.“
Auch wenn es lächerlich erscheint, die Tiefe dieser Verletzung geht weit über das damalige Verbot, mitsingen zu dürfen, hinaus.
Nicht nur mein Glaube, nicht schön singen zu können, ist seit diesem Moment felsenfest verankert. Ich störe die Harmonie meiner Mitmenschen, indem ich auch nur versuche, Teil zu sein. Und ich muss deshalb still sein.
Es war die Bestätigung dessen, was ich für mich bereits festgestellt hatte zu sein: Ich bin zu viel, überflüssig. Ich bin geduldet, nicht Teil. Und machtlos, weil einfach nicht begabt.
Noch heute spiegelt sich meine Sehnsucht, Teil sein zu können, in der Vorstellung, eine erwünschte Stimme in einem Chor sein zu dürfen, wider.
Eine Kirche beispielsweise, fühlt sich für mich „richtig“ an, wenn sie vom Klang (für mich) schöner Musik durchströmt ist. Wie berührend muss es erst sein, Teil derer zu sein, die so etwas zu tun vermögen!
Manchmal denke ich, ich würde gerne noch eine Sprache lernen.
Vielleicht sollte ich besser Gesangsunterricht nehmen.
Was mich bremst?
Mangelndes Vertrauen in die Fähigkeiten von Lehrern der Musik, sollen sie mir doch eigentlich das Lebendürfen beibringen.
Hi Karin, Ausdrucksfähigkeiten zu benoten ist eine Unmöglichkeit, denn das wird dem Menschen nicht gerecht. Das passiert auch beim Malen und Tanzen, selbst beim Schreiben. Jeder kann singen, malen, tanzen. Das entspricht nicht immer dem Schönheitsempfinden der anderen. Ich hatte mal einen Lehrer in Musik, der benotete bei Kindern nicht, ob sie eine Melodie fehlerfrei nachsingen konnten, sondern ob sie den Text des Liedes auswendig konnten. Dem bin ich heute noch dankbar. – Viele Menschen singen im Auto, weil sie nach Maßstäben anderer nicht schöne Töne hervorbringen. – Singen ist gut für den ganzen Menschen, aber das weißt du sowieso!