Hineinleben

 

Man muss den Dingen die eigene,

Stille ungestörte Entwicklung lassen,

Die tief von innen kommt

Und durch nichts gedrängt 

Oder beschleunigt werden kann. 

Alles ist austragen 

Und dann gebären. 

Reifen, wie ein Baum, der seine Säfte nicht drängt

Und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, 

Ohne Angst, 

dass dahinter kein Sommer kommen könnte. 

Er kommt doch! 

Aber er kommt nur zu den Geduldigen, 

Die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, 

So sorglos, still und weit….

Man muss Geduld haben 

Gegen das Ungelöste im Herzen 

Und versuchen,  die Fragen selber lieb zu haben, 

Wie verschlossene Stuben 

Und wie Bücher, 

Die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. 

Es handelt sich darum, alles zu leben. 

Wenn man die Fragen lebt, 

Lebt man vielleicht allmählich, 

Ohne es zu merken eines fremden Tages 

In die Antwort hinein 

 

Rainer Maria Rilke

Briefe an einen jungen Dichter,  1908


Hallo Karin,

lieben Dank für Deine Grüße. Gerade hat mir eine Freundin ein Gedicht von Rilke geschickt und ich musste sofort an Dich denken. Es ist einfach wunderbar!

Ich hoffe wir sehen uns bald wieder!

Liebe Grüße

Rebekka


Liebe Rebekka!

Ja, wunderbar… das trifft’s.

Es öffnet das Herz, macht weit, gibt Trost und Zuversicht.

Hab‘ ganz lieben Dank für’s Weiterleiten und Teilen. Und besonders für’s an mich denken. Wir sehen uns – hoffentlich ganz bald! Und ich freu‘ mich jetzt schon sehr auf Dich.

Karin

Zweifel

Ich habe mich „aufgemacht“ im letzten Jahr.

Und ich habe mich zu spüren bekommen.

All diese Selbstzweifel, die Unruhe, das Gefühl der Haltlosigkeit, meine Einsamkeit. Das Gefühl, falsch zu sein. Und die tiefe Sehnsucht.

Ich lerne mich selbst wahrzunehmen und auszuhalten.

Und ich lerne es hoffentlich, darauf entsprechend zu reagieren und immer leichter Entscheidungen zu treffen, die sich richtig anfühlen.

Am letzten Montag habe ich meine Arbeitsstelle wieder angetreten. Im ganzen letzten Jahr habe ich nach dem Klinikaufenthalt und vor dem halbjährigen unbezahlten Urlaub kaum gearbeitet.

In meiner alten Strenge, mit mir selbst umzugehen, würde ich sagen, es war Gewohnheit, oder es mangelt mir an Durchhaltevermögen oder Willen. Heute halte ich die schlichte Notwendigkeit für möglich, die mich in den letzten Tagen in mein altes, zwanghaftes Essverhalten trieb.

Essen ist Trost und Belohnung für besondere Anstrengung. Aber was ist denn so anstrengend?

Es fühlt sich schlicht nicht mehr richtig für mich an, dort zu arbeiten. Und es macht mir Angst, dies als meine Wahrheit anzunehmen.

Aber ich kann nicht mit mir ins Reine kommen, wenn ich ständig damit beschäftigt bin, mich im Dreck zu wälzen.

Ich werde mich nie richtig fühlen, wenn ich das Gefühl habe, das Falsche zu tun. Am falschen Ort zu sein. Ich kann und will die Anforderungen dieses Arbeitsplatzes nicht mehr erfüllen. Ich habe mich aufgemacht und will mich nicht mehr zustopfen müssen, um in der Lage zu sein, dort zu arbeiten. Ich will den Preis nicht mehr zahlen, den es mich kostet, dort arbeiten zu können.

Warum habe ich den überhaupt all die Jahre gezahlt?

Ich sehe nun deutlicher, wie wichtig es für mich als Karin ist, einen Platz zu haben, an dem ich willkommen bin. Anerkannt und gesehen. Als Person irgendwie gewertschätzt und Teil einer Gruppe von Menschen. All dies glaubte ich in einem gewissen Maße in der Arbeit gefunden zu haben. Ausgeblendet habe ich die Details, vor denen ich nun nicht mehr meine Augen verschließen kann und will.

Es macht mir Angst, wie emotional unbeteiligt ich gedanklich diesen Hort der Sicherheit aufgebe. Wie viel ist mir die Sicherheit eines unbefristeten, im Pflegebereich gut bezahlten Arbeitsplatzes wert? Bringe ich mich um Hab und Gut und in Not? Ich erhoffe mir Genesung, mehr und mehr Heilsein fühlen zu können, indem ich nicht mehr so viel tue, was sich falsch anfühlt. Aber die Pessimisten in mir lachen sich gerade kaputt…. „Deine Wunden sitzen tiefer, meine Liebe, die heilen doch in diesem Leben nicht! Du machst Dir was vor! Planlos, ideenlos, haltlos wie Du bist!“

Ich werde wieder zur Arbeit gehen. Und hoffe darauf, noch deutlicher zu spüren, dass es so nicht weitergeht. Dass sich ein Weg auftut, der sich gut anfühlt. Und die Strecke dazwischen kleine Wunder birgt, mit denen ich jetzt noch gar nicht rechnen kann.

Karin, denk‘ an den PCT… keine Minute willst Du missen. Trotz des ganzen Schmerzes.

Gleichzeitig habe ich Angst davor, dass die alten Mechanismen des Verdrängens wieder greifen.

neue Kategorie „Altes würdigen“

 

Diese Notiz stammt aus einem Gespräch mit meinem Uffenheimer Therapeuten Hrn. B.

Ich habe mich ihrer erinnert und sie herausgesucht, nachdem ich den heutigen Beitrag „Musiklehrer“ geschrieben und mich danach so wehmütig und schwer gefühlt habe.

Wehmut und Schwere dürfen sein. Ich darf den Schmerz spüren und feststellen, wie sehr diese alten Verletzungen mich noch heute beeinträchtigen.

Sie gehören zu mir, beeinflussen mein Denken und Fühlen, mein Handeln und Planen.

Manchmal bekomme ich sie als so eine „alte Verletzung“ zu fassen, so wie im vorhergehenden Beitrag.

Aber ich darf und kann mir bewusst machen, dass es auch etwas anderes gibt:

Das Neue.

Hier steht klar die Angst im Vordergrund.

Und auch sie gilt es zu würdigen – aber mich nicht davon lähmen zu lassen.

Auch wenn die Vergangenheit vielleicht ganz voll ist von Schmerz und die Zukunft vielleicht ganz leer von Angst:

Sie ist noch nicht geschrieben.

Und es liegt an mir, wer den Griffel in der Hand hat.

 

Musiklehrer

Ich habe den Raum noch vor Augen. Im Erdgeschoss des damals modernen, offenen Schulgebäudes meiner Grundschule war die Aula zu einem kleineren Raum abtrennbar, in dem der Musikunterricht stattfand. Es gab ein Klavier und diese typischen, Stühle aus Pressholz mit klappbaren Schreibauflagen. Ich habe den Raum als hell in Erinnerung. Wir Kinder saßen in einem weiten Halbkreis, kaum drei Reihen hintereinander. Der Boden war bedeckt von diesen glattengeschliffenen, schwarz-weiß gemusterten Steinfliessen. Es war für mich immer mit einer kleinen Aufregung verbunden, in diesen so selten genutzten Raum gehen zu dürfen.

Wie hieß noch diese Lehrerin? Fr. M… ?

Versuche ich mir aus dem nebligen Erinnern ein Bild zu machen, steht das Klavier fast mittig im Raum und das Licht trifft die schlanke, nicht mehr junge Frau von seitlich links hinten. Sie trägt eine große, rundliche Brille mit beigem Plastikgestell. Ihre eher dünnen, blassbeigen, Haare dürfen ihren Kopf ein zärtlich wild wirkend umwirbeln. Ich glaube, sie hatte sie ein bisschen hochgesteckt. Stelle ich mir ihre Kleidung vor, habe tatsächlich vorsichtige Schlaghosen in Erinnerung. Oder einen glatten, wadenlangen, wollenen Rock in Naturfarben.

Es gab Lehrer, von denen wollte ich ganz besonders gemocht werden. Sie gehörte wohl eher nicht dazu.

Sie wirkte genervt und lustlos auf mich. Heute denke ich mir, wir grauenvoll es wohl auch gerade für musikalische Menschen sein muss, Grundschulkinder auch noch singend ertragen zu müssen.

Vielleicht mussten wir deshalb so oft „Peter und der Wolf“ anhören?

Aber ich habe das Singen noch sehr gut in Erinnerung. Wir krakehlten gemeinsam Volkslieder oder versuchten uns im Kanon. Manchmal bekamen Auserwählte – ich nicht – eine Rassel oder einen Schellenring und durften mit musizieren.

Ich kenne die damaligen Lehrpläne einer Grundschullehrerin im Fach Musik nicht. Meiner Meinung nach sollte damals wie heute das Entdecken und Erleben der Freude am gemeinsamen Musikmachen im Vordergrund gestanden haben bzw. stehen, unabhängig von der Qualität des Produktes. Aber die Ziele dieser Frau sahen wohl ganz anders aus, denn zwei ihrer Sätze sprechen Bände davon und haben sich so tief in die Knochen meines Gehirns gebohrt, dass ich bis heute meine Singstimme nicht hören mag und nur mit lauter Musikbegleitung überhaupt in die Welt lasse:

„Irgendetwas brummt hier…. Karin, sei mal ruhig. Ah, jetzt ist es besser.“

Auch wenn es lächerlich erscheint, die Tiefe dieser Verletzung geht weit über das damalige Verbot, mitsingen zu dürfen, hinaus.

Nicht nur mein Glaube, nicht schön singen zu können, ist seit diesem Moment felsenfest verankert. Ich störe die Harmonie meiner Mitmenschen, indem ich auch nur versuche, Teil zu sein. Und ich muss deshalb still sein.

Es war die Bestätigung dessen, was ich für mich bereits festgestellt hatte zu sein: Ich bin zu viel, überflüssig. Ich bin geduldet, nicht Teil. Und machtlos, weil einfach nicht begabt.

Noch heute spiegelt sich meine Sehnsucht, Teil sein zu können, in der Vorstellung, eine erwünschte Stimme in einem Chor sein zu dürfen, wider.

Eine Kirche beispielsweise, fühlt sich für mich „richtig“ an, wenn sie vom Klang (für mich) schöner Musik durchströmt ist. Wie berührend muss es erst sein, Teil derer zu sein, die so etwas zu tun vermögen!

Manchmal denke ich, ich würde gerne noch eine Sprache lernen.

Vielleicht sollte ich besser Gesangsunterricht nehmen.

Was mich bremst?

Mangelndes Vertrauen in die Fähigkeiten von Lehrern der Musik, sollen sie mir doch eigentlich das Lebendürfen beibringen.

 

Der Atem stockt

Ich kann und will diese Arbeit nicht mehr tun.

Alles streubt sich. Der Atem stockt.

Aufgemacht hatte ich mich in diesem Jahr. Und offen treffe ich auf meinen Arbeitsplatz.

Es war ein Platz für mich, ein Willkommensein, mir so wichtig, dass ich mich all die Jahre über alle Signale hinweggesetzt und die Qualen in Kauf genommen habe. Fühlte ich mich doch auch gerade in dieser Qual als Teil meiner Kollegenschar.

Teilsein. Da sein dürfen.

Für dieses Gefühl nahm ich es auf mich, gegen die paar Werte zu arbeiten, die ich für mich schon gefunden habe. Ich unterstütze dieses System, so mit kranken Menschen umzugehen, indem ich mich meiner selbsternannten Machtlosigkeit unterwerfe und meinem derzeitigen Gefühl, das das nicht richtig ist, misstraue.

Auch wenn ich echte Schwierigkeiten damit habe, zu definieren, was genau:

Ich kann nicht mehr so viel geben und lassen. Ich spüre, ich kann diese Arbeit nicht mehr tun. Es mangelt mir an Konzentration, Geduld, Duldsamkeit, Flexibilität, Sanftmut. Und eben dem Gefühl, das Richtige zu tun. In mir und als Teil dieses Systems.

Infolgedessen quäle ich mich erneut.

Deutlich spürbar am Essverhalten.

Dieses dämpft die Schuld, die Sehnsucht nach Trost bei gleichzeitigem Gefühl der Untröstlichkeit.

Ich fühle mich zu klein für die folgenden Schritte.

Ich kann doch nicht mit 50 so eine Stelle aufgeben! Was soll ich tun? Was will ich tun? Wie weiter leben?

Es hat doch all die Jahre funktioniert… Klar. Aber zu welchem Preis?

Wie soll ich auf Körper, Seele und die neuen, fremden Gefühle und Gedanken hören können, wenn mir das so ungewohnt vorkommt?

Soll ich wirkliche all meine Sicherheiten in Frage stellen? Den Arbeitsplatz und am Ende noch die Wohnsituation?

Wie aber kann ich mich jemals „richtig“ fühlen, wenn ich tue, was sich falsch anfühlt?

Vertrauen lernen.

Indem ich es tue.

Das ist die Theorie.

Aktuell habe ich einfach nur Angst.

„Innehalten“!!!

schreit der Körper mit einer nicht zu überhörenden Erkältung: Auch ihm stockt der Atem.

„…nur noch eine Nacht durchhalten“ tröste ich ihn.

Ob das womöglich wahr wird?