Rückblick: Knoblauchsland

Heute bin ich nach Herborn geradelt. Fehlender Proviant war angesichts der anrainenden, übervollen Obstbäume kein Problem. Aber es gab nicht ein einziges Gemüsefeld. Da fiel mir ein, dass ich doch schon an einem Beitrag über meinen Nürnberger Lieblingsort begonnen hatte:

Knoblauchsland

„So heißt die Region im Nordwesten Nürnbergs. Es liegt im Zentrum des Städte-Dreiecks Nürnberg-Fürth-Erlangen und ist eines der größten zusammenhängenden Gemüseanbaugebiete in Deutschland.

Zwiebelzuchten haben diesem Landstrich zu seinem Namen verholfen. Hinweise darauf bietet das Wachstafelzinsbuch des Burggrafentums Nürnberg von 1425. Um 1600 weist der Nürnberger Stadtschreiber Johannes Müllner auf die Zwiebel als Namensursprung hin:

„Und diese bisher aufgezählten Flecken und Dörfer (des Knoblauchslandes) liegen alle zwischen dem Wald und der Rednitz gegen der linken Hand, welcher Traktus insgeheim das Knoblauchsland genannte wird, aus Ursach, dass viel Zwieffel und Rubsamen gebauet und von hinnen in fremde Land führt … und damit große Hantierung getrieben wird.“

Die Stadt Nürnberg und seine umliegenden Dörfer konnten so schon vor Jahrhunderten voneinander profitieren.

Der Stadt diente das Umland als Nahrungsproduzent, dafür konnten sich die Bewohner der Dörfer in Krisenzeiten auf den Schutz der Burg verlassen.

Quelle: https://www.rb-knoblauchsland.de/homepage/seite-3.html

 

Das Knoblauchsland ist mein liebstes Ziel während meiner Zeit in Nürnberg.  Es lärmt nicht, ist nicht schnell, nicht hoch, aber weit.

Mein Rad macht alles mit, trägt mich hin und weg.

Ich spüre Muskeln, auch die fehlenden, den Atem, auch den kurzen. Sandige Wege bringen mich zur vollen Aufmerksamkeit, schottrige zum Lachen. Ich bin ganz im Hier – und weg vom Da.

An das Lachen mit dem paustbackigen Trekkerfahrer werde ich mich hoffentlich auch noch lange erinnern: Wie vor einem Jahr auf dem Camino stelle ich mich oft absichtlich unter die Sprenkelanlagen und lasse mich bewässern und genieße es, zu bemerken, wie gut sich Wind, Feuchte, Wärme und Haut vertragen.

Feuchtes Gemüse riecht zwar noch intensiver, aber meine Nase vermag es trotzdem nicht wirklich, herauszufinden, nach welchem Kraut es gerade genau riecht. Aber ich versuche es immer wieder… Zwiebelgewächse aller Art stechen hervor: Lauch, Knobi, Schnittlauch in langen Reihen. Dill, Rucola, Minze und sogar Liebstöckel kann ich ausmachen, Sellerie, Fenchel, Salat und Kohl hingegen nur optisch erkennen.

Ja, und ein mal schnupperte ich, kaum hatte ich die Siedlung hinter mir gelassen, einem Duft hinterher… Ich kannte den Geruch,  hatte ihn schon oft gerochen. Und ich war ganz aufgeregt, weil ich mir sicher war, herausbekommen zu können, was ihn verströmt. Und dann war er da, der Moment der Erkenntnis und die Lösung ließ mich breit grinsen, denn es roch eindeutig, würzig, intensiv nach

Gulasch!!!

Kurz mal weg

Schneller Flügelschlag und leises Plitschen, aber mit einem kräftigen Quaken kommentiert die Ente ihre Ankunft auf dem Wasser der Talsperre Ratscher im Thüringer Wald und schwimmt gemütlich davon.

Einen Song namens „Fog on the water“ könnte man anlässlich des Ausblickes erschaffen. Die aufgehende Sonne hat sich noch nicht hoch genug vorgearbeitet. Aber der Himmel ist blau und wird ihrer Stahlkraft einen weiteren Tag dieses heißen Sommers kein Wölkchen entgegensetzen.

Ich bin noch im Schlafsack. Der wird dann auch noch seine Zeit zum Trocknen brauchen und sie in Ehre bekommen.

Ich werde sie nutzen. Habe den Kocher mit und Instantkaffee. Etwas zu Schreiben. Und die Ruhe, die manchmal meine Schläfrigkeit begleitet, lade ich zum Bleiben ein. Wir könnten zusammen Weile teilen. Enge, Zwang, Angst und Eile haben keinen Termin – vielleicht hilft ihr das.

Und wenn sie trotzdem erscheinen, schicke ich sie fort.

Dort hin, wo sie nötiger gebraucht wurden.

Selber machen

In der Auslage lag ein Gruß aus vergangenen Tagen.

Da lag ein Abbild einer Botschaft.

„Du bist etwas ganz Besonderes“

Es gibt mich selten, denn ich koste Mühe und brauche Zeit. Es ist etwas Besonderes, ein besonderer Anlass, wenn es mich gibt.

Und Du bist etwas Besonderes, wenn es mich auch für Dich gibt, ich für Dich zur Verfügung stehe. Du mich einfach nehmen kannst und vielleicht auch sogar das Gefühl hast, es zu dürfen. Wenn Du von von mir kosten darfst, mich verinnerlichen, mich zu Deinem machen: Ich könnte für immer Deins sein, wenn Du mich isst.

Ich spürte den alten Wunsch nach Erfüllung.

Ich weiß nicht genau, was es damals gekostet hat. Heute zahlte ich einfach den genannten Preis in Währung und freute mich erwartungsvoll aufgeregt darauf, gleich etwas zu bekommen, auf das ich so lange gewartet habe (…die magischen, kostbaren, wundervollen Momente vor dem sicher eintretenden, freudigen Ereignis. Für mich oft einfach zu schön, um zu fassen, unbeschreiblich – und sie vergehen genau so oft ungespürt).

Verschmelzung. Gänze gewinnen.

Aber es war nichts davon darin: Weder Trost noch Zufriedenheit. Nicht eine Spur von Wertschätzung. Kein Hauch von „Du bist geliebt“. Und keine Messerspitze des damaligen kindlichen Glücksseeligkeitsgefühls.

Die Enttäuschung beeindruckte mich tief und setzte mich in die erstaunte Erkenntnis:

Es war nur ein Stück Donauwelle!

Und noch nicht mal gut geschmeckt hat es.

 

 

Es hat die Botschaft geändert.

„Ich bin leer von alledem. Du spürst nur Deine Leere, wenn Du von mir kostest“

Aber das kannst Du inzwischen auch so.

Deshalb musst Du mich nicht essen.

 

Oder anders gesagt: Alles muss man selber machen 😉

Wind

Zwischen Mittagessen und dem gemeinsamen Abschlusskaffeetrinken ist noch etwa eine Stunde Zeit.

Die Ausgangstüre des steinernen Gebäudes liegt im Schatten, aber nur eine Linkswendung weiter präsentiert sich der Sommer stolz und prahlt verschwenderisch mit Licht und Wärme.

Ich weiß schon, wohin ich will. Vorbei an den letzten Häusern der Klinik. Rechts liegt die ausgetrocknete Weide der Pferde, die sich im Schatten gegenseitig die Mücken wegwedeln. Weiter entlang an der vielbefahrenen Straße bis zur Autobahnunterführung. Kurz davor rechts ab, bergan auf asphaltigem Weg bis zum Waldrand.

Ich ziehe mir das Leinenteil aus und spüre den Wind auf der Haut meiner Schultern. Die Entspannung macht sich breit. Jetzt, jetzt gerade ist es leicht.

Ich freue mich über jeden Schweißtropfen. Er versteht sich so gut mit dem Wind. Ich bin sicher, ich lächle.

Rechts ab in den Weg, der oberhalb der Klinik entlang läuft. Klar, es ist ein bisschen schattiger, aber die Wärme des Sommers ist da und mir willkommen. Weiß ich doch gleich wieder geschützt zu sein.

Ich beobachte gerne Pferde. Eine schöne, schlanke, braune Stute mit langen, wachen Ohren lässt mich nicht aus den Augen. Sie tritt aus dem Schatten auf mich zu, streckt mutig ihren Kopf über den Elektrozaun und schnaubt mich sanft an. Ich bin glücklich und völlig unverdient stolz über diese Geste. Sehe ihr dunkles Auge und die vier Mücken, die sich daran laben. Kraule sie kurz hinter dem Ohr (Windsor hat das früher so gemocht – vielleicht sie ja auch?) und bedanke mich bei ihr und beim Leben für diesen Moment.

Ja.

Und dann gab es noch selbstgebackenen Bienenstich mit Buttersahnepuddingfüllung und einen Platz neben Bernd am Tisch.

Wände

Ok, denke ich, es ist Zeit, mir wieder zu begegnen, packe meine Sachen und gehe aus dem Ruheraum.

Mein erster Blick fällt auf die Therapeuten im Raum gegenüber. Sie warten auf den Beginn der Therapiekonferenz, sehen mich kurz an und unterhalten sich weiter.

Komme mir beobachtet vor, irgendwie entblößt und (für mich logische, völlig automatisierte Folgerung) als unwertig erkannt.

Ich korrigiere mich. Meine Anspannung aber bleibt. Ich fühle mich störend, während ich an zwei Menschen auf dem Flur vorbeigehe.

Im Tagesraum ist viel los. Eigentlich zu viel für mich. Etwa 6-8 Mitpatienten spielen Skipbo. „Mein“ Platz ist besetzt. Einen anderen nehmen? Kann ich mir nicht erlauben. Mich zumuten geht gerade nicht. Flucht.

In den Ruheraum zurück? Am Therapeutenzimmer vorbei? Geht nicht.

Ich schaue nach dem Sofazimmer. Was für ein Glück: Es ist frei!

Sogar das Fenster ist geschlossen, die eindringenden Geräusche sind gedämpft.

Fühle mich wie ein Kämpfer in seiner Ecke zwischen den Runden eines sinnlosen Kampfes ohne Aussicht auf Erlösung.

Mein Gegner sind Wände aus Watte.

Noch zehn Minuten bis zum Mittagessen.

Schon jetzt höre ich den Ton der bald rufenden Glocke.

 

Klarheit

Gleich nach der Abendrunde machte ich mich auf den Weg. Die Wärme des Tages glühte noch nach. Man muss vom Klinikgelände nicht lange laufen, schon hat man Wald und Felder erreicht. Laufen tut mir einfach gut. Und die Gegend ist herrlich, es gefällt mir hier.

Der „Hallensport“ machte mir klar, dass ich emotional zur Zeit keineswegs belastbar bin.

Aber jedes miese Gefühl geht irgendwann vorbei. Und liebe Menschen in der Nähe zu haben, hat noch immer dabei geholfen. So auch heute.

Ich durfte deutlich spüren, dass ich alten Gefühlen, die hochquellen, mehr oder weniger hilflos ausgeliefert bin, genau so, wie zu der Zeit ihrer Entstehung.

Klarheit.

Ich bin nicht mehr die Alte. Und das ist gut so. Ich habe es so gewollt.

Zuversicht

Geld hin oder her. Ich mag die Idee von unabhängiger Zufriedenheit. Möge es mir gelingen!

Neugierde

Ich darf mich neu kennenlernen. Was mag mein Weg für mich bereithalten?

Weite

Auch wenn sich ein Platz nicht völlig richtig anfühlt, ja auch wenn er sich als falsch herausstellt, darf ich daran lernen und mich immer wieder umentscheiden.

Vertrauen

Mein Weg wird sich zeigen. Ein Schritt nach dem anderen. Mich werden wunderbare Menschen begleiten. Freunde. Und andere, neue Menschen, auf die ich treffen werde.

Milde

Es braucht seine Zeit.

Stärke

Ich schaffe das. Bis zu dem Punkt, an dem ich Hilfe brauche und finden werde.

Lernen

Grenzen wahrnehmen und respektieren. Meine und die um mich herum.

Jetzt

Darum geht es. Wieder und wieder: Jetzt.

Lieben

üben. Mit dem Herzen sehen lernen. Eine so schöne Vorstellung. Die Welt braucht solche Menschen.

Die Lehrstelle ist für mich frei.

Warstein

Es ist Sonntag. Ich habe in der für mich gemütlichen Küche einen guten Platz gefunden. In meiner kleinen Zelle unter dem Dach hätte ich mich nicht so wohl gefühlt.

Die vielen, großen, über hundertjährigen Bäume werfen ihre Schatten auch hier hinein. Beschützen, begleiten und beruhigen mich. Ein wunderbares Gelände: Weiträumig, großzügig, an einen Park erinnernd.

Vom Fernseher des Tagesraums klingen Geräusche in meine Ohren, auf die ich gerne verzichten würde. Ein Rehabilitant hat es sich langgestreckt auf dem Sofa gemütlich gemacht und zappt. Er macht das oft: Er wird „Papa“ genannt.

Die meisten der wenigen Anwesenden sind wohl momentan auf dem Raucherbalkon zu finden, der langsam, aber sicher von der Sonne erobert wird.

An Wochenenden ist hier niemand, der dafür Lohn bekommt. Die Stimmung ist entspannt, man begegnet sich freundlich im Vorbeigehen oder beim Instantkaffeebrauen.

Heute ist der Fünfte von sieben Tagen meines Probewohnens in der hiesigen Einrichtung zur RPK („Rehabilitation Psychisch Kranker“). Hier wohnen schätzungsweise bis zu 18 Menschen über Monate zusammen. Die meisten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, wobei die Anzahl der Männer überwiegt. Ziel ist es wohl, in einer Kombination aus medizinischer und beruflicher Rehabilitation Stabilität und Orientierung im Leben zu finden. Vielleicht das zu finden und einzuüben, um das Leben irgendwie leben zu können. Üben vielleicht, äußere Regeln einzuhalten oder innere blockierende Regelhaftigkeiten loslassen zu können.

Es kann passieren, dass man in den ersten Wochen im Zweibettzimmer untergebracht ist. Aber irgendwann darf hier jeder umziehen in einen eigenen Bereich. Sanitäranlagen aus den geschätzten frühen Siebzigerjahren befinden sich auf dem Flur.

Zu Beginn sind die Alltagsfähigkeiten im Fokus: Tagesstrukturierung und Hauswirtschaft. Nachmittags steht täglich eine Sporteinheit auf dem Programm. Kommt man in „Stufe Zwei“, kocht und hauswirtschaftet man nicht mehr gemeinsam mit den zwei wöchentlichen Probewohnern, sondern für sich alleine. Zudem steigert man in den zahlreichen Einrichtungen der Klinik (Metallwerkstatt, Gutshof mit Bioladen, Tieren, Gärtnerei) sowie in verbundenen niedergelassenen Betrieben seine tägliche Belastbareit stundenweise bis zur individuellen Grenze. Die Praktikumsstellen werden nach persönlichen Fähigkeiten mit Hilfe der beziehungsweise von den Ergotherapeuten vermittelt. Mir scheint, der Schwerpunkt liegt klar in der beruflichen Rehabilitation. Die medizinische Reha findet in einem wöchentlichen Gespräch mit dem psychologischen Dienst statt. Ebenso oft gibt es eine psychotherapeutische Gruppentherapiestunde mit offenen Gesprächsthemen, die aber nur für bis zu zwölf Teilnehmern offen steht. Ich dachte, ich würde hier intensiv DBT kennenlernen, aber das ist nicht der Fall. Die Ambulanz der Klinik bietet, in Modulen aufgegliedert, eine Skillsgruppe nach Linehan an. Momentan ist bis Oktober Urlaubspause. Eine Begleitung dieser, wenn, dann ein Mal wöchtentlich stattfindenden Gruppenstunden wird nur bei Bedarf und nach Anfrage durch die hiesigen Sozialpädagogen gewähleistet.
Die gesamte RPK Maßnahme dauert hier meistens zwischen neun Monaten und einem Jahr.

In fünf Minuten sind Lidl und Edeka zu Fuß zu erreichen. Freies WLAN gibt’s bei Mc Donalds in zwei Kilometern Entfernung.

Warstein liegt am nördlichen Rand des Sauerlandes. Gestern war ich zum Aussichtspunkt Lörmecketurm Wandern – mit Genuss. Und Motorradfahrer finden hier auch viel zum Erkurven.

Klar habe ich noch nicht viel gesehen von der Stadt. Habe sie durchquert, mal erfolglos versucht, in einer Kirche Einblick zu erhalten und in der Eisdiele gesessen, die in den wichtigsten Kategorien „Nusseis“ sowie „Cappuchino“ glatt durchfiel und zudem an der vielbefahrenen Straße liegt, die die Stadt durchquert.

Dieser breit ausgebauten, für LKW ausgelegten Hauptverkehrsader muss der Stadtkern geopfert worden sein, den ich bislang nicht ausmachen konnte. Die Läden des Örtchens sind in maximal zweistöckigen, steinigen Bauten an der Straße aufgereiht wie Stockfische im Todeskampf. Ich erlebe das kleine Städtchen als „am Tropf hängend“. Es gibt schöne Ecken und Winkel. Die, die ich gefunden habe, sind von direkter Straßen- und Fabrikszenerie umgeben.

Für Staub und Lärm sorgen neben dem Durchgangsverkehr die Kalk- und Betonwerke, die teilweise nahezu im Stadtinneren gelegen sind. Und dann gibt es noch die riesige Biermacherei, die den Namen dieses idyllischen Ortes zum Markenzeichen gewählt hat. Sie ist mit ihrem modrigen Produktionsgeruch ständig präsent und nimmt vermutlich durch ihre nicht unerheblichen Steuerabgaben ebensolchen Einfluss auf die politischen Entscheidungen.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich als Lebensstoffinfusionslösung die LWL Klinik, in der ich gerade Insassin bin und die vielen Menschen nicht nur befristeten Lebens- und Arbeitsraum gibt und somit ebenfalls zum Erhalt der Wirtschaftskraft Warsteins sorgt.

Was macht diesen Ort richtig oder falsch für mich?

Werde ich in absehbarer Zeit einen Ort finden, der sich richtig anfühlt?

Wird dieser Ort dann in absehbarer Zeit auch zu mir „Ja“ sagen?

Wird er „Ja“ sagen können – also die Rentenversicherung einverstanden sein?

Die Zeit drängt.

Was ich durch die Gespräche mit den hier Lebenden gelernt habe ist: Soziale Absicherung ist ein hohles Wort. Wenn der Fischer nicht fischen will, sondern sparen, auf andere Netze verlegen, etc. hat das Netz sehr große Löcher. Schnell ist man auch aufgrund von Wartezeiten aus der Lohnfortzahlung, dem Krankengeld, dem Arbeitslosengeld und ab in ALG 2.

Es fühlt sich trotz all den vielen Monaten in Klinken, auf Wegen immernoch so unwirklich an.

Kann ich wirklich nicht mehr die sein, die irgendwie funktioniert? Die den Schalter umlegen und einfach wieder funktionieren kann – und das auch wirklich will? Die für ein bisschen Arbeit einen Haufen Geld bekommt? Die sich um die Zukunft keine Gedanken machen muss? Die sich um Geld keine Sorgen machen muss, um nichts, was da kommen könnte?

Kann es wirklich sein, dass die Ärzte richtig liegen, dass das stimmt, was in den Entlassungsbriefen steht? Was steht da eigentlich? Wie kann ich verstehen lernen, was da steht? Und mich darin erkennen?

Passiert das alles wirklich mir?

Ist es wirklich wahr?

Was?

Welche Wahrheit hätte ich denn gerne?

Darf’s ein bisschen mehr vom Begreifen sein? Von Zuversicht und Vertrauen? Von Vision und Tatkraft? Freude und Neugier?

Ja, bitte, gerne…

Aber wie?

 

 

 

Kunsttherapie

Fr. Moosgrün-Hellwachsanftgemüt* (*nee, net wirklich 😉 ), Kunsttherapeutin der Herborner Klinik, führte kurze Einzelgespräche mit den ca. zehn Teilnehmern, die sie nicht alle schon kannte. Eine nachvollziehbare Reihenfolge war für mich nicht zu erkennen. Ich war die Letzte und verwechselte mich mit „das“. Bis zu diesem Zeitpunkt war mein innerer Druck schon durch das Betrachten der Werke anderer Therapieteilnehmer in Zusammenhang mit dem Warten, meiner Unruhe und die Ratlosigkeit, was ich denn tun wolle und könne, deutlich spürbar angestiegen. Als sie mich ansprach erklärte ich mich knapp, verabschiedete mich hastig und floh weinend aus meiner ersten Kunsttherapiestunde.

Vierzehn Tage später wusste ich schon etwas besser, was auf mich zukommt. Kurz zuvor hatte ich in meinem Chor „Friedrich, den Ermutiger“ ausgemacht und wollte die Gedanken dazu mithilfe eines Bildes ein bisschen verfestigen. Fr. M. schlug mir ein Format vor, ich wählte ein noch größeres. „Gute Idee“ meinte sie, händigte mir Malkreide aus und stellte mich so ausgerüstet an die Staffelei. Noch nie zuvor habe ich an einer Staffelei gemalt! Ich war recht ausgelassener Stimmung und ging so unüberlegt wie möglich ans Tun. Noch bevor die Kritiker das Wort ergriffen, erklärte ich das Bild für gelungen und vollendet. Ein paar Takte drüber sprechen. Klar, ohne Scham geht’s nicht. Aber das Bild begleitet mich seit dem Tag. Es ist da, wo ich schlafe und aufwache. Zumindest als Abbild auf dem Handy.

 

Was denn heute anstünde? Ich habe Schwierigkeiten damit, wahrzunehmen, was ich will und mich dann auch dafür zu entscheiden, meinte ich. Und gerade jetzt könnte ich das so offen stehen lassen. Ob sie denn eine Idee habe, wie ich mich annähern könnte an mich und an „das“?

Ja, meinte Fr.M., da gäbe es was:

Ein Schichtbild.

Malen mit zwei bis drei Lieblingsfarben. Mithilfe eines von ihr ausgeschnittenen Passepartoutrahmens eine Stelle aussuchen, die bleiben soll.

Dann wieder Farben / Material wählen und eine neue Schicht auftragen, also das alte Bild übermalen. Erneut eine Stelle entdecken, die bleiben soll…

Ich erinnere mich noch gut an die Scham beim Malen, aber besonders intensiv an meine Schwierigkeiten, etwas auszusuchen, das es wert sein soll, beschützt zu werden. Was macht es besser oder schlechter als den Rest des Bildes?

Darf nur „das Besondere“ bleiben?

Aber:

Ich muss nicht alles zerstören. Es darf etwas bleiben, das mir gefällt, am Herzen liegt.

Und dann das Übermalen:

Weg! Für immer weg!

Spüren, wie sehr ich am Alten hänge. Schmerzlicher Trost des Gebliebenen. Aber auch entdecken, das eine neue Schicht auch ungeahnte, eigene Wunder bergen kann.

Wählen der neuen Farbe! Ich nahm Pink. Es sollte ja zur vorhergehenden Schicht passen… sagte Fr. M.

Warum eigentlich?

Außerdem entdeckte ich noch einen Farbrest vom Vormittag….

lch wählte allen Ernstes eine Farbe für mich, weil sie von anderen übrig gelassen worden war!!!

Zuletzt sollte ich Ruhe reinbringen, meinte Fr.M.

Ich spürte recht deutlich, wie wenig Lust ich auf Ruhe hatte, folgte aber ihren Anweisungen und wählte Grau. Und Silbertrost. Aber der konnte auch nichts mehr retten.

Eigentlich klar:

Ich konnte das „fertige“ Bild so wenig leiden, dass ich es mir am Ende der stationären Behandlung nicht vorstellen konnte, es mitzunehmen. Fr. M. lud mich ein, es dort bei ihr zu lassen und später nochmal aus der Tagesklinik nach ihm zu sehen und spüren, ob ich es dann vielleicht mitnehmen wolle.

Das tat ich dann auch. Dort zurückbleiben sollte es auch nicht.

Möchte mich richtig verabschieden zu seiner Zeit.

Oder….

…noch eine weitere Schicht auftragen.

Zu meiner Zeit, mit meinen Farben, meiner Idee von Auswahl, Schwung und Ausdruck, meinen Entscheidungen folgend.