Wut ohne Schuld

Etwas Neues in meinem Leben sind die Selbsthilfegruppen, die ich hier ein bis zwei mal wöchentlich besuche, also wann immer ich die Termine wahrnehmen kann.

Die Regel lautet: Man redet nur von sich und davon, was jetzt im Moment gerade ist – was gefühlt, empfunden, gedacht ist. Keine Geschichten / Erlebnisse / Ursachenforschung, weder im Jetzt als auch nicht in der Vergangenheit, kein Suchen, Streben und Planen in der Zukunft. Kein „weil, wegen, deshalb“ oder „und dann ist auch noch das passiert, hat xy jenes gesagt…“ etc. Einfach ehrliches Mitteilen. Äußerungen möglichst ohne emotionaler „Ladung“. Die anderen hören mit der ganzen, größtmöglichen, liebevollen, wohlwollenden Aufmerksamkeit schweigend zu.

Wir wechseln nach 10 Minuten. Jeder, der möchte, kommt dran.

Mehr nicht.


Sie rotzte ihre Wut hinaus, schmiss sie uns hin, kläffte sie uns in den Raum. Sagte sogar, dass sie wolle, dass andere wütend auf sie sind und dass sie nur darauf warte, jetzt gleich hinausgeworfen zu werden.

Und ich zog mir sie an, diese Wut, ließ sie zu meiner werden, konnte mich weder zur Wehr setzen, noch mich gänzlich abschirmen. Meine Grenzposten waren überfordert.

Mein Verstand suchte: „Sie hat kein Recht, sie bricht doch die Regeln… – oder?“ Keiner griff ein. Also doch?

Sie nutzte den Raum, den man ihr bot. Sie nahm sich das Recht, sich zu probieren, Grenzen zu testen, daran zu rütteln. Und sie tat es. Sicher war das nicht „einfach“ für sie!!!

Ich achte sie in ihrer Wut: Sie ist sehr mutig.

Ich trage keine Schuld an dieser Wut. Ich müsste sie mir suchen und mich ihrer bei anderen versichern. Und doch habe ich sie so deutlich gespürt: Wut.

MEINE Wut – durch sie gelöst.

Frisch gebackene, sich entladende Wut in altem Gewand…

Nur stellvertretend an sie gerichtet.

„Wie kannst Du nur? Hör doch auf damit! Du hast nicht mehr Recht, nur weil Du aggressiv rumrotzt. Ich weiß mit Deiner Wut nichts anzufangen, bin nicht zuständig, verdammt noch mal. Ich will einfach meine Ruhe und Du lässt sie mir nicht. Was nimmst Du Dir raus?“

und, auch (des Bedauerns nötig bedürftig):

„Gib gefälligst das, was ich gerne hätte, mir vorstelle,.. brauche, will.“

Und die Regeln halfen mir, meinen „inneren Araber“ zu zügeln. Ich schwieg, suchte Sicherheit in meinen Respekt und meinem Wohlwollen. Erahnte – erdenkend – hinter der zornigen Wut die Not einer jahrzehntelang aufgestauten Verzweiflung. Suchte meine artgegebene Fähigkeit zum mitleidslosen Mitgefühl zu aktivieren. Stellte mir vor, wie sich das anfühlen könnte, jetzt mitfühlend sein zu können. Mitgefühl wirkt beidseitig…

Spürte die Ruhe der anderen Körper im Raum: Es war kein Grund zu Flucht oder Angriff – es ist möglich, ganz ruhig – einfach bei diesem (subjektive Bewertungen…) rotzenden, kläffenden, wütenden Wesen zu bleiben!

Und ich vertraute auch auf die Regeln der Zeit: 10 Minuten vergehen. Wie jede 10 Minuten.

Diese Gestalt war praktisch, sozusagen gleichzeitig Auslöser und Reflektor: Ich erlebte und durchlebte mit der ihren auch meine eigene Wut. Kein Angriff, weder auf mich selbst, noch auf andere – und keine Täterflucht in keine Richtung – weder in Hass, Erniedrigung oder Schuldzuweisungen. Weder auf mich, noch auf sie – und auch nicht aus dem Raum / in die Trennung / das wohlbekannte Gefühl des Getrenntseins oder des Selbsthasses.

Welch ein Geschenk!

Ahnung einer anderen Dimension.

Danke.