Sie, meine Zimmerkollegin

Kapitel 1:

Genügsamkeit

Sie lebt in einer WG für psychisch Kranke in einem Zweibettzimmer. Ihre schönste Zeit im Leben sei die betreute Ausbildungszeit zur Haushaltshilfenhelferin gewesen. Sie hört Radio FFH am Handy mit Ohrenstöpseln so laut, dass ich mithören kann. Zu den Therapien ist sie immer pünktlich. Bei den Hausaufgaben „weiß sie nicht, wie sie es ausdrücken soll“. Sie wiederholt dann einzelne Worte in Satzfragmenten, die kurz zuvor gefallen sind. Bei den Mahlzeiten fehlt sie nie und isst immer alles restlos auf. Anzutreffen ist sie ansonsten meist zu Bett. Nur selten wird sie von ihrer Lieblingsserie in den Fernsehraum bewegt: „In aller Freundschaft“.

Ich habe sie noch nie in einer der Therapien getroffen, die wir freiwillig wählen können. Musik, aktive Bewegung und Körpererfahrung sind ihr so fern wie mir angeleitete Gesellschaftsspielgruppen oder einfach da zu liegen und massiert zu werden.

Wir haben zwei Mal die Woche Ergotherapie in der DBT Gruppe. Sie will immer irgendwas von den Therapeuten. Anleitung, Hilfe, mit ihnen spielen: Zuwendung eben.

Wenn ich mit ihr rede, freut sie sich. Lacht über meine Scherze. Stimmt mir bei allem zu.


Kapitel 2

Unschuld

Gerade liegt sie mal wieder. Erneut, seit gestern zum zweiten Mal, am Tropf im Bett. Sie ist blass und schlapp.

Sie fragt mich, die ich nur schnell ein paar Sachen holen und dann möglichst schnell wieder fliehen will, ob ‚alles in Ordnung sei?‘

Ich bin getrieben. Hochspannung. Ich koche vor Wut unter dem Druck von Schuld, Ratlosigkeit und dem Bedürfnis nach Ruhe und Sicherheit (von Innen und Außen).

Wie kann ich ihr Mitgefühl annehmen? Ohne mich oder sie zu entwerten? Es wütend ins andere Ende des Universums zu treten?

Irgendein sehr, sehr starkes „Muss“ hält alles zusammen…


Kapitel 3

Kleiner Gefallen

„Duuuhuu?…“

„Was ist?“

„Kannst Du mir aus dem Penny (5 min Fußweg) 3in1 Kaffee mitbringen?“

„Warum gehst Du nicht selbst?“

„Mir geht es nicht so gut, ich fühle mich noch nicht so ganz wohl.“

„Kannst von mir Kaffee haben…“

„Neee. Ich hätte aber gerne den 3in1…“

(Anmerkung: 3in1 ist portioniert inclusive Zucker und Milchpulver: Noch nicht mal das muss man selber machen bzw. entscheiden, wie viel man davon will oder braucht…).

Ich sage nein, koche aber innerlich vor Wut und Selbstvorwürfen.

Kann ich ihr nicht einfach den für mich winzigen Gefallen tun?


Kapitel 4

Weg damit… ?

Ich finde, ich behandele sie oft wie Dreck.

Selbst – Mitleid? Höhnischer Spott. Ekel.

Ihr derweil ist körperlich übel. Sie kotzt.


Kapitel 5

Verzeihung

Wut tut gut, ist aber verdammt anstrengend, wenn sie nicht zielgerichtet nach außen ver-gehen darf.

Ich bat sie um Verzeihung.

Ich bat sie um Verzeihung dafür, dass ich sie des Diebstahls beschuldige, ohne wirklich konkrete Hinweise zu haben. Es hätte schließlich jeder sein können – und ich weiß, dass es MEINE Schuld ist…. Ich sagte ihr, dass es mir leid tut, derartig dem Groll anzuhängen und nicht loslassen zu können.

Sie freut sich so sehr und so ehrlich aufrichtig wirkend, dass „es“ ankommt.

Sie stemmt sich in ihrer drallen Körperkürze von der Bettkante…

„Komm‘ lass Dich mal in den Arm nehmen…“

Reine, großzügige, schlichte, glückliche Herzlichkeit ihrerseits.

Dankbares, beschämtes, unfassbares Gerührtsein meinerseits.

Verzeihen können fühlt sich also so an…!!!???

So gut.


Zusammenfassung:

Wie kann ich bloß diesen Vater in mir lieben?

Den, der nichts mit dieser widerlichen Kleinen zu tun haben will? Dieser ständig bedürftigen, zuwendungssüchtigen, ungeschickten, hässlichen Unpersönlichkeit? Die, die er nicht auch noch haben wollte? Die so viel „sollte“ für ihn hatte, Unfähigkeit, Falschseingefühl wie Unschuld?

Die er lieben müsste, sollte, aber einfach nicht kann?

Die reine Schuld steht zwischen uns/mir/in mir wie eine Wand. Gepackt in Wut.

Sie schützen vor dem Schmerz der Leere. Die sich – theoretisch – füllen könnte mit… Leben, Rührung, Vertrauen,…

Aber die Wand…

Vergebung könnte sie entlasten…


Wie nur?

Mir selbst…? Dieser…? Diesem?

„Ja.“ sagt Friedrich.

„Indem Du es tust.

Immer, immer wieder… tust.“

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