Entscheidung für einen neuen Weg… am Tag 4 (Sa., 17.11.2018)
Klaus bot mir an, vorzulesen. Er war ja gerade aufgestanden, die Zeitung hatte ich aus der Klinik kommend mitgebracht. Vorgelesenbekommen – ja!
Das alleine aber hätte nicht gereicht, dass der Moment, mein in ihm wohl und Zuhausefühlenkönnen zum Einverständnis des inneren Chors hätte gelangen können. Es war Zeit für eine ‚Skillskette‘, eine kurz aufeinanderfolgenge Anreihung oder Anhäufung von Fertigkeiten zum Verändern der Handlungs- oder Urteilsfähigkeit im Hier und Jetzt… : Ich stellte Klaus‘ Sessel ans Licht und bereitete ihm einen Kaffee. Die Nachfolgerin der „Mitgefühlskerze“, einem Geschenk von Christoph, brannte auf der Standbox. Auch waren die großen Zeitungsblätter dort vor der Flamme gut geschützt und ich konnte sie immer sehen, bewusst oder unbewusst. „Die Trostspenderin“, eine reine, ätherische Duftölmischung füllte den Raum. Ich selbst durfte ins Bett kriechen, wo schon eine Wärmflasche wartete. Neben mir dampfte der mit Zimt und Kardamon gewürzte Kräutertee. Häkelnd waren Finger und Hirn beschäftigt.
Wirklich neu war, dass ich 1. wahrnehmen, 2. wahrhaben und 3. sogar ausprechen konnte, das ich nicht wirklich in der Verfassung war, zuzuhören. Es ist leider viel zu oft so, dass ich bzw. meine Aufmerksamkeit ‚abdriftet‘, was natürlich und verständlicherweise zur Verärgerung führen kann: „Sag‘ mal, wozu lese ich eigentlich vor?“ Diesmal konnte ich es aussprechen, dass es mir heute nicht oder nur am Rande, als „Zugabe“ um die Informationsgewinnung ging, denn „Vorgelesenbekommen“ bedeutet mir weitaus mehr als das.
Vorgelesenbekommen ist etwas, dass meine Kanäle zu tiefen Bedürfnissen öffnet. Ein stilles Teilhabendürfen, ein Willkommensein der Art Lagerfeuer, Sonnenschein, auf der Erde liegen….
In der Sonne zu sitzen ist „Gesehenwerden, im Überfluss, unendlich üppig, Licht und Wärme geschenkt bekommen ohne Wert, Urteil und Leistung“. Lagerfeuer bedeutet „gemeinsam in Sicherheit sein“. Auf der Erde liegen ist „Getragenwerden ohne Last zu sein“. Vorgelesenbekommen berührt mich in ähnlicher Weise sehr. Die Regeln sind für alle klar. Es ist schwer, Fehler zu machen oder zu finden. Die Distanz stimmt: Das emotionale Verletzungsrisiko ist für beide Seiten gut steuerbar. Es ist ein Teilen, Geben und Nehmen gleichzeitig (und beim Rollentausch kann ich auch lernen, Vertrauen zu haben, dabei gut genug zu sein).
Es geht um Zuwendung.
Menschliche Zuwendung, die für meine inneren Kritiker und für meine innere Kleine, beide, aushaltbar ist.
Und gerade, weil ein Mensch Teil ist, ist dieses Vorgelesenbekommen – sicher nicht nur für mich – eine Möglichkeit, das Gefühl des Vertrauenhabenkönnens einzuladen, vorsichtig einzuatmen und am Ende vielleicht in klarem Dank zu verabschieden, auch wenn die kindliche Gewissheit, das alles nicht wahr ist, von den Kritikern zerstört wird und die Strafe sicher folgt, weil man doch wieder irgendwas falsch gemacht hat und der Mensch doch eigentlich lieber bei anderen vorgelesen hätte… usw.
(Ja, Ihr schier unermüdlichen, mich liebenden, mich beschützenwollenden inneren Kritiker: Ihr hattet Eure Vorlesepause redlich verdient. Seid nicht allzu streng mit der Kleinen. Sie hat die Ruhe vor Euch so sehr gebraucht.)
Habt Dank. Ihr Vorleserinnen und Gitarrenvirtuosen meines Lebens. Ich konnte Euch ein großes Geschenk machen. So groß wie Ihr mir eines gemacht habt. Es wirkt noch immer.
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PS (ein paar Stunden später):
Es kann natürlich sein, das diese, meine Wahrheit bei Euch ganz anders aussieht, obwohl wir diese Zeit gemeinsam verbracht haben.
Schade, aber durchaus möglich, dass ich mehr genommen habe, als Ihr geben wolltet.
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PPS:
Ja. Und Geschenke will auch nicht jeder.