Fülle

Meine Zeit in Nürnberg geht erstmal zu Neige, morgen endet der vierzehntägige Aufenthalt auf der Station, die DBT zum Therapiekonzept gewählt hat.

Bilder

Ich nehme hilfreiche Bilder mit. Eines erzählt von meinem Sitzen am Esstisch mit ein paar Mitpatienten. Ich fühlte mich unter Anspannung, nicht richtig, wollte weg… und sah in die Runde: Lauter Menschen, denen ich dieselbe Stimmung zurechnen konnte. Ich gab ihnen das Recht und zog die Möglichkeit in Erwägung, dass es ihnen genaus so erging wie mir. Nicht nur, dass ich dadurch indirekt mir Entlastung durch Gleichartigkeit erlaubte. Sondern ich entlastete mich auch als mögliche Ursache für deren Körperhaltung, die auf Be- und Entrücktsein schließen ließ. Ich konnte ihnen ihr eigenes Kopfkino erlauben, frei von dem meinen. Und das fühlt sich verdammt frei an! Für einen Moment der klaren Sicht. Aber nicht nur das. Ich nehme auch die Übertragung auf „die Welt da draußen“ mit. Ich habe nun, wenn ich an diese Bild denke, eine mögliche, schnell wiederbegreifbare Haltestelle zwischen Wahrnehmung („hier spricht keiner, die sitzen mit hängenden Schultern und gesenktem Blick da, stochern in ihrem Essen ohne es zum Mund zu führen“) und Urteil („es liegt an mir…“). Ich gestatte Borderlinern diese persönliche Freiheit, sich schlecht zu fühlen. Da draußen denen sehe ich es auch nicht an, ob sie zu diesem Menschenschlag gehören, oder nicht. Und letztendlich können sie ja auch nichts dafür, dass sie anders sind… also dürfen auch sie ihr ganz eigenes Kopfkino haben ;-).

Nicht, dass mir das kognitive Verständnis dafür bisher nicht zur Verfügung gestanden hätte. Aber hier konnte ich es begreifen. Für diesen Augenblick.

Und, von der Kühnheit des Momentes getragen, kann ich eine weitere Aussicht auf diesem Punkt erdenken: Wenn ich ihnen es gestatte, sich so zu fühlen, wie sie gerade sind, könnte ich es – klar, pure Theorie 😉 – vielleicht auch mir selbst?

Ansätze

Ich nehme Ansätze mit und übe mich mit damit zufrieden und zuversichtlich zu sein, dass es eine Saat ist, der ich Zeit zum Aufgehen geben muss und darf.

DBT

DBT heißt ausgeschrieben „Dialektisch behavoriale Therapie“. Es wurde in den achziger Jahren von einer selbst Betroffenen namens Marsha Linehan, geboren 1943, ursprünglich für die ambulante Behandlung von Borderline-Patienten entwickelt.

Sie wurde in ihrer Jugend als schizophren fehldiagnostiziert und jahrelang mit Psychopharmaka und Elektroschocks behandelt. Sie arbeitete später in einer Versicherungsagentur und wurde nebenberuflich zur Psychologin. Ist heute Professorin in Seattle.

„Behavorial“ heißt, dass das Verhalten im Mittelpunkt steht. Ziel ist eine Erweiterung und Veränderung der Handlungs- und Denkweisen. Auch eine Beeinflussung von Gefühlserleben ist möglich.

Dazu wird, immer in Bezug auf typisches Erleben im Rahmen der Diagnose, eine Menge Theorie vermittelt. Ich konnte davon nicht genug bekommen – und bin doch randvoll.

„Dialektisch“ hat viele Bedeutungen. Ich nenne es für mich bisher so: Es gibt mehr als schwarz und weiß, himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt, schrecklich oder phantastisch, usw.

Wir bekommen Hilfe, aber nur so viel wir gerade brauchen, um wieder Verantwortung selbst zu übernehmen. In klitzekleinen Schritten, die widerum Anerkennung finden. Wir bekommen viele Freiheiten (offene Station, keine festen Mahlzeiten oder -orte, keine festen Anwesenheitszeiten), aber verpflichten uns daran, Regeln einzuhalten (an- und abmelden, Verlässlichkeit, Absprachen). Diese Regeln können auch individuelle Aspekte miteinbeziehen. Zum Beispiel bekam ich die Aufgabe, mich zwei Mal täglich an die pflegerischen Mitarbeiter zu wenden um zu schildern, wie es mir geht. An Regeln hält sich auch das Team (z.B. Pünktlichkeit oder auch für sie: Einhaltung der Regeln wie Verlegung von Patienten bei schweren Verstößen). Wir bekommen Hilfe, verpflichten uns aber auch zur aktiven Mitarbeit. Füllen täglich Tabellen aus und machen eine mehrseitige Verhaltensanalyse bei selbst- oder therapieschädigendem Verhalten. Wir entscheiden mit, welche Therapiegruppen wir besuchen wollen oder nicht. Hören uns an, was sinnvoll ist. Erscheinen pünklich. Wunderbar finde ich persönlich, das es bei dieser Station wirklich nicht nur Theorie ist, dass wir wiederkommen dürfen, so oft wir es zu brauchen scheinen. Wir sind willkommen. Es gibt eine Krisenintervention von acht Tagen und ein Zweiwochenprogramm. Zudem besteht die Möglichkeit, an einem Langzeitprogramm teilzunehmen, welches aber an ein bestimmtes Aufnahmeritual gebunden ist und auf dessen Warteliste ich jetzt stehe, um dann auf die Warteliste für die Behandlung zu kommen…

Rückschläge sind also akzeptiert. Es ist Teil des Genesungsprozesses, den Zeitpunkt zu erkennen, wann Hilfe nötig ist, sich diese einzugestehen und zielsicher in Anspruch zu nehmen.

Dialektisch heißt also auch: Ich werde in meinem Erleben ernst genommen. So habe ich auch die Regeln ernst zu nehmen, die mein Gegenüber hat. So kann eine tragfähige, vertrauensvolle Beziehung gelingen. Nichts aber spricht gegen Erweiterungen im Kleinen.

Psychoedukation bzw. Basisgruppe (1 x wöchtentlich)

Ich habe viel über die Erkrankung gehört. Was nicht heißt, dass ich sie bzw. das, was ich erlebe, bereits wirklich begreifen, verstehen oder gar akzeptieren kann.

Kurz: Gefühle sind übergroß, oft nicht benennbar (ich denke da an meine „Mattigkeit“) und haben oft gar nichts mit den realen Bedingungen zu tun (z.B. kindliche Angst, verlassen zu werden). Zudem funktioniert die Gefühlsregulation im Hirn nicht richtig, der emotionale Stress hält also länger an als beim Durchschnitt der Bevölkerung.

Es ist also einerseits verständlich, dass ich mich unnormal, „nicht richtig“ fühle, weil der Rest der Menschheit einfach emotional anders tickt. Und warum ein Mensch mit einer Borderline Symptomatik vielleicht manchmal anders agiert und reagiert, hat also auch seinen Grund.

Dumm sind die Spannungszustände, einerseits entstehend aus der gestörten Stresstoleranz, andererseits aus dem Gefühlssalat von Ursprungsgefühl (z.B. Wut) und Folgegefühl (z.B. Schuld, weil ich wütend bin). Diese hindern die Auseinandersetzung mit all dem und letztendlich ein Verändern des Verhaltens.

Deshalb ist es nötig, sehr hohe Anspannung zu reduzieren und möglichst zu vermeiden.

Hier kommen die „Skills“ / Fertigkeiten ins Spiel.

Fertigkeit: Stresstoleranzskills

Ziel ist es, aus dem Kopfkino auszutreten ins „Hier und Jetzt“. Skills sind Helfer, hinauszukommen. Erstmal müssen diese, um im Bild zu bleiben, rein ins Kino. Je nach Eingang (Sinneskanäle), der noch offen und über den das Kino noch erreichbar ist, gibt es andere Stresstoleranzskills:

  • Hören (Klatschen, mit den Finger schnipsen, singen, Musik hören, etc),
  • Sehen (Achtsamkeitsübungen, Fokussierung auf etwas ganz anderes, etwas beschreiben, den Blick wenden,…),
  • Riechen (Ammoniak, Duftöle, Minze,…),
  • Fühlen (Knetbälle, Massagering, Eiswürfel lutschen, Eiselement auf die Haut, Haut bürsten,…),
  • Schmecken (Chilli, Zitrone, Brause, Bittermandeln, scharfe Bonbons,…).

Natürlich gibt es auch Teilhabe-Skills, die mehrere Sinne ansprechen (Sport, Raus in die Natur gehen, Duschen…). Im Falle der Hochspannung (Skala ab 70 von 100) wendet man eine Skillskette aus drei Stresstoleranzskills und einem Gefühlsskill an.

Fertigkeit: Gefühlsskill

Ein Gefühlsskill bezieht sich auf das vorrangige Gefühl, das der Auslöser für die Spannung ist. Zum Beispiel bei Wut könnte ich Sport machen, um dem Körper zu gestatten, seine Wut auszudrücken. Bei Traurigkeit könnte ich mit einem lieben Menschen telefonieren, wenn es mir Trost spendet.

Es geht beim Skillen nicht darum, das Gefühl zu unterdrücken, sondern darum, die Spannung so weit zu senken, dass ich in der Lage bin, herauszufinden, was eigentlich los ist.

Andere Fertigkeiten:

Wenn man zum Kreise der Fortgeschrittenen gehört, lernt man noch genauer, wie man mit mit den Gefühlen umgeht, lernt und übt, wie man im zwischenmenschlichen Bereich besser klar kommt (schätzungsweise geht es dabei sicher um Bausteine aus der gewaltfreien Kommunikation), lernt, welche Dinge aus dem lebenspraktischen Bereich hilfreich sind (guter Schlaf, ausreichende Trinkmenge, stressarme, aber strukturierende Tätigkeit, usw.). Eine weitere Fertigkeit, auf die besondere Aufmerksamkeit gelegt und der auch zeitlich viel Raum gegeben wird, ist die Achtsamkeit.

 Und zurück: Alles, damit wir in die Lage kommen, mehr und mehr Verständnis für uns aufzubringen und somit Verhalten, Denken, Wahrnehmung und Gefühle zu überdenken und umzulenken lernen.

Menschen, die auf einer solchen Station hilfreich im Sinne der Therapie agieren müssen – aus meiner Sicht – Zuversicht und Vertrauen haben, in was auch immer, aber ganz sicher auch in den möglichen Genesungsweg der Patienten, der denen zu Beginn einfach unvorstellbar ist. Therapeuten müssen verlässlich sein in ihren Signalen und in der Einhaltung der Regeln. Ermutigung ist ein wichtiges Thema, Wohlwollen und Anerkennung. Aber sie müssen auch immer wieder das Ziel im Auge und bei der Wahl der gerade hilfreichen Mittel ein gutes Gespür haben, um bei Bedarf zu bremsen oder zu fördern. Eine enorme Anforderung, deren Ausmaß ich mich kaum zu skizzieren in der Lage fühle.

Mal sehen, wie ich das in der Karte zum Ausdruck bringe, die ich dem Team nun zum „Abschied“ schreiben möchte.

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