Wind

Zwischen Mittagessen und dem gemeinsamen Abschlusskaffeetrinken ist noch etwa eine Stunde Zeit.

Die Ausgangstüre des steinernen Gebäudes liegt im Schatten, aber nur eine Linkswendung weiter präsentiert sich der Sommer stolz und prahlt verschwenderisch mit Licht und Wärme.

Ich weiß schon, wohin ich will. Vorbei an den letzten Häusern der Klinik. Rechts liegt die ausgetrocknete Weide der Pferde, die sich im Schatten gegenseitig die Mücken wegwedeln. Weiter entlang an der vielbefahrenen Straße bis zur Autobahnunterführung. Kurz davor rechts ab, bergan auf asphaltigem Weg bis zum Waldrand.

Ich ziehe mir das Leinenteil aus und spüre den Wind auf der Haut meiner Schultern. Die Entspannung macht sich breit. Jetzt, jetzt gerade ist es leicht.

Ich freue mich über jeden Schweißtropfen. Er versteht sich so gut mit dem Wind. Ich bin sicher, ich lächle.

Rechts ab in den Weg, der oberhalb der Klinik entlang läuft. Klar, es ist ein bisschen schattiger, aber die Wärme des Sommers ist da und mir willkommen. Weiß ich doch gleich wieder geschützt zu sein.

Ich beobachte gerne Pferde. Eine schöne, schlanke, braune Stute mit langen, wachen Ohren lässt mich nicht aus den Augen. Sie tritt aus dem Schatten auf mich zu, streckt mutig ihren Kopf über den Elektrozaun und schnaubt mich sanft an. Ich bin glücklich und völlig unverdient stolz über diese Geste. Sehe ihr dunkles Auge und die vier Mücken, die sich daran laben. Kraule sie kurz hinter dem Ohr (Windsor hat das früher so gemocht – vielleicht sie ja auch?) und bedanke mich bei ihr und beim Leben für diesen Moment.

Ja.

Und dann gab es noch selbstgebackenen Bienenstich mit Buttersahnepuddingfüllung und einen Platz neben Bernd am Tisch.

Wände

Ok, denke ich, es ist Zeit, mir wieder zu begegnen, packe meine Sachen und gehe aus dem Ruheraum.

Mein erster Blick fällt auf die Therapeuten im Raum gegenüber. Sie warten auf den Beginn der Therapiekonferenz, sehen mich kurz an und unterhalten sich weiter.

Komme mir beobachtet vor, irgendwie entblößt und (für mich logische, völlig automatisierte Folgerung) als unwertig erkannt.

Ich korrigiere mich. Meine Anspannung aber bleibt. Ich fühle mich störend, während ich an zwei Menschen auf dem Flur vorbeigehe.

Im Tagesraum ist viel los. Eigentlich zu viel für mich. Etwa 6-8 Mitpatienten spielen Skipbo. „Mein“ Platz ist besetzt. Einen anderen nehmen? Kann ich mir nicht erlauben. Mich zumuten geht gerade nicht. Flucht.

In den Ruheraum zurück? Am Therapeutenzimmer vorbei? Geht nicht.

Ich schaue nach dem Sofazimmer. Was für ein Glück: Es ist frei!

Sogar das Fenster ist geschlossen, die eindringenden Geräusche sind gedämpft.

Fühle mich wie ein Kämpfer in seiner Ecke zwischen den Runden eines sinnlosen Kampfes ohne Aussicht auf Erlösung.

Mein Gegner sind Wände aus Watte.

Noch zehn Minuten bis zum Mittagessen.

Schon jetzt höre ich den Ton der bald rufenden Glocke.