Selber machen

In der Auslage lag ein Gruß aus vergangenen Tagen.

Da lag ein Abbild einer Botschaft.

„Du bist etwas ganz Besonderes“

Es gibt mich selten, denn ich koste Mühe und brauche Zeit. Es ist etwas Besonderes, ein besonderer Anlass, wenn es mich gibt.

Und Du bist etwas Besonderes, wenn es mich auch für Dich gibt, ich für Dich zur Verfügung stehe. Du mich einfach nehmen kannst und vielleicht auch sogar das Gefühl hast, es zu dürfen. Wenn Du von von mir kosten darfst, mich verinnerlichen, mich zu Deinem machen: Ich könnte für immer Deins sein, wenn Du mich isst.

Ich spürte den alten Wunsch nach Erfüllung.

Ich weiß nicht genau, was es damals gekostet hat. Heute zahlte ich einfach den genannten Preis in Währung und freute mich erwartungsvoll aufgeregt darauf, gleich etwas zu bekommen, auf das ich so lange gewartet habe (…die magischen, kostbaren, wundervollen Momente vor dem sicher eintretenden, freudigen Ereignis. Für mich oft einfach zu schön, um zu fassen, unbeschreiblich – und sie vergehen genau so oft ungespürt).

Verschmelzung. Gänze gewinnen.

Aber es war nichts davon darin: Weder Trost noch Zufriedenheit. Nicht eine Spur von Wertschätzung. Kein Hauch von „Du bist geliebt“. Und keine Messerspitze des damaligen kindlichen Glücksseeligkeitsgefühls.

Die Enttäuschung beeindruckte mich tief und setzte mich in die erstaunte Erkenntnis:

Es war nur ein Stück Donauwelle!

Und noch nicht mal gut geschmeckt hat es.

 

 

Es hat die Botschaft geändert.

„Ich bin leer von alledem. Du spürst nur Deine Leere, wenn Du von mir kostest“

Aber das kannst Du inzwischen auch so.

Deshalb musst Du mich nicht essen.

 

Oder anders gesagt: Alles muss man selber machen 😉

Sosein

Des Begreifungsprozesses weißnichtwievielter Teil


So fühlen

Angst vor dem Fallen in das, für das nur mein Körper achselzucken kann

zerrinnen in den Fingern

nicht halten können, weder mich noch das

 

unfassbar intensive Hoffnung auf die Möglichkeit des Wahrseinkönnens

nicht wagen einzuatmen

So schön kann es nicht sein

 

Bändigen! Mich fest binden

Mich selbst ganz fest

winden

 

was es kostet

 


Ich kann es nicht überhören, dieses eindringliche Geräusch, das ensteht, wenn Waren mit Barcode über die Kasse gezogen werden. Dazu das Klacken des Deckels beim Öffnen und Schließen der Kasse. Das gegenseitige Wünschen eines „Nennschönentachnoch-Dankeihnenauch“ dringt dagegen nicht bis hier zu meinem Platz im Café des Supermarktes vor. Ich mag es, mir vorzustellen, dies sei ehrlich und persönlich gemeint und freue mich über die freundliche Geste der gegenseitigen wohlgesinnten Bemerkung von Menschen, deren Lebenslinien zufällig aufeinandertreffen.

Manchmal genehmige ich mir, so wie jetzt gerade, „einen davor“. Einen guten, – naja – besseren, als den Kaffee der Tagesklinik. Ich versuche mich einzustimmen auf die Begegnung mit einer ganzen Gruppe von Menschen, der ich noch bis nächste Woche zugehöre, ohne es wirklich zu wollen oder das Gefühl zu haben, es zu können. Es fühlt sich so an, als tue ich es, ohne es zu sein. Als spiele ich eine Rolle. Die Zuschauer spielen mit, ohne es zu wissen, dass sie meine Kritiker sind. Und gleichzeitig versuche ich dem Spiel die Erlaubnis zu geben, Wirklichkeit, das wahre Leben zu sein, was es ja aber im Grunde genommen gar nicht sein kann, findet es ja in der künstlichen Realität im Rahmen einer psychiatrischen Klinik statt.

Mein Chor. Ich kann ihn zur Zeit nicht hören. Es fühlt sich gedämpft an.

Bin ich mir so fern? Oder ist das die Normalität?

Ist es meine? Will ich die?


117 Fragen. 234 Kästchen, aufgeteilt in „Ja“ und „Nein“. Dazu ein langes Gespräch, in dem die Unklarheiten aufgeklart werden sollten. Und dann:

„Sie erfüllen die Kriterien, die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung stellen zu können.

Nicht alle Merkmale sind gleich stark ausgeprägt. Was erklärt, dass Sie so viele Jahre ihre Copingstrategien aufrecht erhalten, somit die Alltagsanforderungen erfüllen und sogar arbeiten gehen konnten. Es gibt Akzentuierungen (…), aber ich sehe gute Chancen, dass sie mit einer erfolgreichen Teilnahme an einem DBT Programm und in Zusammenarbeit mit entsprechenden Therapeuten auch wieder ein Angestelltenverhältnis aufnehmen werden.“

So sprach der Psychologe, gestern, am 25. Juli 2018


Herzlichen Glückwunsch! Es ist ein…

 

Borderliner!

 

Es ist raus. Das Kind hat was.

Es hat einen Borderliner (keine Angst, nicht ansteckend)

Wer was hat, ist was. Existiert.

Mit ihm

kommt irgendwie Luft heraus

Luft zum Atmen – möglicherweise.

Vielleicht eine Art von Raumbeschaffung zum Sosein

Dürfen

Möglichkeiten

Erlaubnis

Existenz

Worte, die ich miteinander spielen lassen kann.

Druckentlastung. Für einen Moment,

der schon fast drei Tage währt.

 

Wind

Zwischen Mittagessen und dem gemeinsamen Abschlusskaffeetrinken ist noch etwa eine Stunde Zeit.

Die Ausgangstüre des steinernen Gebäudes liegt im Schatten, aber nur eine Linkswendung weiter präsentiert sich der Sommer stolz und prahlt verschwenderisch mit Licht und Wärme.

Ich weiß schon, wohin ich will. Vorbei an den letzten Häusern der Klinik. Rechts liegt die ausgetrocknete Weide der Pferde, die sich im Schatten gegenseitig die Mücken wegwedeln. Weiter entlang an der vielbefahrenen Straße bis zur Autobahnunterführung. Kurz davor rechts ab, bergan auf asphaltigem Weg bis zum Waldrand.

Ich ziehe mir das Leinenteil aus und spüre den Wind auf der Haut meiner Schultern. Die Entspannung macht sich breit. Jetzt, jetzt gerade ist es leicht.

Ich freue mich über jeden Schweißtropfen. Er versteht sich so gut mit dem Wind. Ich bin sicher, ich lächle.

Rechts ab in den Weg, der oberhalb der Klinik entlang läuft. Klar, es ist ein bisschen schattiger, aber die Wärme des Sommers ist da und mir willkommen. Weiß ich doch gleich wieder geschützt zu sein.

Ich beobachte gerne Pferde. Eine schöne, schlanke, braune Stute mit langen, wachen Ohren lässt mich nicht aus den Augen. Sie tritt aus dem Schatten auf mich zu, streckt mutig ihren Kopf über den Elektrozaun und schnaubt mich sanft an. Ich bin glücklich und völlig unverdient stolz über diese Geste. Sehe ihr dunkles Auge und die vier Mücken, die sich daran laben. Kraule sie kurz hinter dem Ohr (Windsor hat das früher so gemocht – vielleicht sie ja auch?) und bedanke mich bei ihr und beim Leben für diesen Moment.

Ja.

Und dann gab es noch selbstgebackenen Bienenstich mit Buttersahnepuddingfüllung und einen Platz neben Bernd am Tisch.

Wände

Ok, denke ich, es ist Zeit, mir wieder zu begegnen, packe meine Sachen und gehe aus dem Ruheraum.

Mein erster Blick fällt auf die Therapeuten im Raum gegenüber. Sie warten auf den Beginn der Therapiekonferenz, sehen mich kurz an und unterhalten sich weiter.

Komme mir beobachtet vor, irgendwie entblößt und (für mich logische, völlig automatisierte Folgerung) als unwertig erkannt.

Ich korrigiere mich. Meine Anspannung aber bleibt. Ich fühle mich störend, während ich an zwei Menschen auf dem Flur vorbeigehe.

Im Tagesraum ist viel los. Eigentlich zu viel für mich. Etwa 6-8 Mitpatienten spielen Skipbo. „Mein“ Platz ist besetzt. Einen anderen nehmen? Kann ich mir nicht erlauben. Mich zumuten geht gerade nicht. Flucht.

In den Ruheraum zurück? Am Therapeutenzimmer vorbei? Geht nicht.

Ich schaue nach dem Sofazimmer. Was für ein Glück: Es ist frei!

Sogar das Fenster ist geschlossen, die eindringenden Geräusche sind gedämpft.

Fühle mich wie ein Kämpfer in seiner Ecke zwischen den Runden eines sinnlosen Kampfes ohne Aussicht auf Erlösung.

Mein Gegner sind Wände aus Watte.

Noch zehn Minuten bis zum Mittagessen.

Schon jetzt höre ich den Ton der bald rufenden Glocke.

 

Klarheit

Gleich nach der Abendrunde machte ich mich auf den Weg. Die Wärme des Tages glühte noch nach. Man muss vom Klinikgelände nicht lange laufen, schon hat man Wald und Felder erreicht. Laufen tut mir einfach gut. Und die Gegend ist herrlich, es gefällt mir hier.

Der „Hallensport“ machte mir klar, dass ich emotional zur Zeit keineswegs belastbar bin.

Aber jedes miese Gefühl geht irgendwann vorbei. Und liebe Menschen in der Nähe zu haben, hat noch immer dabei geholfen. So auch heute.

Ich durfte deutlich spüren, dass ich alten Gefühlen, die hochquellen, mehr oder weniger hilflos ausgeliefert bin, genau so, wie zu der Zeit ihrer Entstehung.

Klarheit.

Ich bin nicht mehr die Alte. Und das ist gut so. Ich habe es so gewollt.

Zuversicht

Geld hin oder her. Ich mag die Idee von unabhängiger Zufriedenheit. Möge es mir gelingen!

Neugierde

Ich darf mich neu kennenlernen. Was mag mein Weg für mich bereithalten?

Weite

Auch wenn sich ein Platz nicht völlig richtig anfühlt, ja auch wenn er sich als falsch herausstellt, darf ich daran lernen und mich immer wieder umentscheiden.

Vertrauen

Mein Weg wird sich zeigen. Ein Schritt nach dem anderen. Mich werden wunderbare Menschen begleiten. Freunde. Und andere, neue Menschen, auf die ich treffen werde.

Milde

Es braucht seine Zeit.

Stärke

Ich schaffe das. Bis zu dem Punkt, an dem ich Hilfe brauche und finden werde.

Lernen

Grenzen wahrnehmen und respektieren. Meine und die um mich herum.

Jetzt

Darum geht es. Wieder und wieder: Jetzt.

Lieben

üben. Mit dem Herzen sehen lernen. Eine so schöne Vorstellung. Die Welt braucht solche Menschen.

Die Lehrstelle ist für mich frei.

Mattigkeit

Vernebelte Ratlosigkeit…

Ein feines, hellgraues Netz macht sich breit in meinem Erleben. Gerade ist es aber so dicht, dass ich es ausmachen kann. Es ist nicht warm, nicht kalt. Es hat was von rätselhafter Mattigkeit, ja, genau: Von leichter, feingesponnener Watte.

Es ist diese Watte der Mattigkeit, die Distanz schafft vom Schmerz.

Ich kann mich nicht richtig fühlen und das ist wohl gut so.

Früher war es auch schon so. Nur anders inszeniert…

Die Nachtschicht war vorbei. Manchmal hatte ich noch was Essbares übrig. Manchmal nicht. Manchmal fuhr ich noch in Köppern zum Bäcker oder zur Tankstelle. Es auf der Fahrt bis Wetzlar vertilgt. Ausfahrt Wetzlar Süd. Am Kreisel rechts, gleich hinter dem Leicaneubau, ist der Bäcker Moos. Kaffeestückchen. Mindestens drei. Zwei waren meist für nachmittags übrig, der Rest für die fünf Minuten Fahrt nach Hause.
Vielleicht noch schnell an den Kühlschrank, bevor ich völlig matt ins Bett falle. Der Moment, als mein Kopf das Kissen berührt, ist mir schon nicht mehr bewusst. Von ca. 7 bis 12:30 Uhr schlafen, das war schon gut. Aufstehen, Couch, Fernsehen, Handarbeiten, Essen. 16:30 Uhr war der Plan zum Nochmalschlafen, was meist nicht gelang: Aufstehen, Couch… Arbeit.
Nachtschicht. Ständig essen. Viel zu viel essen.

Tagschicht ging schon lange nicht mehr wirklich. Zu viel Stress. Außen oder innen? Egal.
Gelebte Mattigkeit. Mattsein, Betäubtsein, Funktionieren. Die Watte der Mattigkeit.

Und heute?
Kein Funktionieren. Kein endloses Essen mehr. Kein Fernseher. Keine Arbeit.

Aber die Mattigkeit ist trotzdem da. Jetzt im Moment, in dem ich darüber nachdenke, wie es für mich weitergehen soll. Welcher Platz mag der richtige für mich sein? Welchem Ratschlag soll ich folgen?

Sichtweisen von außen:

Rente beantragen – erstmal Schematherapie machen, dann weitersehen – DBT ambulant – RPK – zu Hause bleiben, Ruhe haben – nochmal nach Uffenheim oder in die Adula, Wolfsried,…

Dazu noch die Blitze von innen:

einfach wieder arbeiten gehen (Schalter umlegen, muss doch irgendwie gehen, ging doch immer, muss nur durchhalten, die erste Zeit, bis ich wieder Sicherheit gewinne…) – Anmeldung auf einer DBT Station einer psychiatrischen Klinik, irgendwo – Schematherapie ambulant, sonst erstmal nix mehr (Sommer genießen, Ruhe finden, Ebay, Entrümpeln…) – Pillen nehmen? – RPK Warstein – RPK Herford – um andere RPKs noch intensiver bemühen – Rente beantragen und weglaufen (Wanderwege) – oder doch einfach eine Lehrstelle suchen? Pack‘ ich das?

Die Mattigkeit schützt mich ähnlich wie Charlotte, die Scham. Schützt mich vor der Angst der Kleinen, der Angst vor der Einsamkeit, dem Falschsein, vor dem Fehlermachen, das mit Sterbenmüssen zu tun hat. Kein Wunder, das Ines („I.“, vernichtende Entwertung, räumt auf. Nichts hat Bestand. Alle anderen Stimmen werden zerstäubt) schonwieder im Hintergrund spürbar ist.

Was kann die Dirigentin für sich tun?

Mattigkeit, Du darfst noch ein bisschen bleiben. Ich brauche Dich wohl gerade, damit ich nicht in Panik verfalle und Ines glaubt, aufräumen zu müssen. Aber ich bin trotzdem noch handlungsfähig. Und den Rahmen will ich ausschöpfen.

Ich mache eine To Do Liste. Einem Fragenkatalog. Und versuche mich an einer ehrlichen Bestandsaufnahme über Ängste, Bedenken, Widerstände. Keine angestrebte Perfektion. Ehrliche Zufriedenheit hätte ich gerne. Ich mache es, so gut es gerade geht.

Auf geht’s. Humor, machste mit? Mit Dir ist einfach alles leichter.

Bis 16 Uhr hammer noch Zeit. Hallensport. Da brauch‘ ich Dich aber auch!!!

Warstein

Es ist Sonntag. Ich habe in der für mich gemütlichen Küche einen guten Platz gefunden. In meiner kleinen Zelle unter dem Dach hätte ich mich nicht so wohl gefühlt.

Die vielen, großen, über hundertjährigen Bäume werfen ihre Schatten auch hier hinein. Beschützen, begleiten und beruhigen mich. Ein wunderbares Gelände: Weiträumig, großzügig, an einen Park erinnernd.

Vom Fernseher des Tagesraums klingen Geräusche in meine Ohren, auf die ich gerne verzichten würde. Ein Rehabilitant hat es sich langgestreckt auf dem Sofa gemütlich gemacht und zappt. Er macht das oft: Er wird „Papa“ genannt.

Die meisten der wenigen Anwesenden sind wohl momentan auf dem Raucherbalkon zu finden, der langsam, aber sicher von der Sonne erobert wird.

An Wochenenden ist hier niemand, der dafür Lohn bekommt. Die Stimmung ist entspannt, man begegnet sich freundlich im Vorbeigehen oder beim Instantkaffeebrauen.

Heute ist der Fünfte von sieben Tagen meines Probewohnens in der hiesigen Einrichtung zur RPK („Rehabilitation Psychisch Kranker“). Hier wohnen schätzungsweise bis zu 18 Menschen über Monate zusammen. Die meisten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, wobei die Anzahl der Männer überwiegt. Ziel ist es wohl, in einer Kombination aus medizinischer und beruflicher Rehabilitation Stabilität und Orientierung im Leben zu finden. Vielleicht das zu finden und einzuüben, um das Leben irgendwie leben zu können. Üben vielleicht, äußere Regeln einzuhalten oder innere blockierende Regelhaftigkeiten loslassen zu können.

Es kann passieren, dass man in den ersten Wochen im Zweibettzimmer untergebracht ist. Aber irgendwann darf hier jeder umziehen in einen eigenen Bereich. Sanitäranlagen aus den geschätzten frühen Siebzigerjahren befinden sich auf dem Flur.

Zu Beginn sind die Alltagsfähigkeiten im Fokus: Tagesstrukturierung und Hauswirtschaft. Nachmittags steht täglich eine Sporteinheit auf dem Programm. Kommt man in „Stufe Zwei“, kocht und hauswirtschaftet man nicht mehr gemeinsam mit den zwei wöchentlichen Probewohnern, sondern für sich alleine. Zudem steigert man in den zahlreichen Einrichtungen der Klinik (Metallwerkstatt, Gutshof mit Bioladen, Tieren, Gärtnerei) sowie in verbundenen niedergelassenen Betrieben seine tägliche Belastbareit stundenweise bis zur individuellen Grenze. Die Praktikumsstellen werden nach persönlichen Fähigkeiten mit Hilfe der beziehungsweise von den Ergotherapeuten vermittelt. Mir scheint, der Schwerpunkt liegt klar in der beruflichen Rehabilitation. Die medizinische Reha findet in einem wöchentlichen Gespräch mit dem psychologischen Dienst statt. Ebenso oft gibt es eine psychotherapeutische Gruppentherapiestunde mit offenen Gesprächsthemen, die aber nur für bis zu zwölf Teilnehmern offen steht. Ich dachte, ich würde hier intensiv DBT kennenlernen, aber das ist nicht der Fall. Die Ambulanz der Klinik bietet, in Modulen aufgegliedert, eine Skillsgruppe nach Linehan an. Momentan ist bis Oktober Urlaubspause. Eine Begleitung dieser, wenn, dann ein Mal wöchtentlich stattfindenden Gruppenstunden wird nur bei Bedarf und nach Anfrage durch die hiesigen Sozialpädagogen gewähleistet.
Die gesamte RPK Maßnahme dauert hier meistens zwischen neun Monaten und einem Jahr.

In fünf Minuten sind Lidl und Edeka zu Fuß zu erreichen. Freies WLAN gibt’s bei Mc Donalds in zwei Kilometern Entfernung.

Warstein liegt am nördlichen Rand des Sauerlandes. Gestern war ich zum Aussichtspunkt Lörmecketurm Wandern – mit Genuss. Und Motorradfahrer finden hier auch viel zum Erkurven.

Klar habe ich noch nicht viel gesehen von der Stadt. Habe sie durchquert, mal erfolglos versucht, in einer Kirche Einblick zu erhalten und in der Eisdiele gesessen, die in den wichtigsten Kategorien „Nusseis“ sowie „Cappuchino“ glatt durchfiel und zudem an der vielbefahrenen Straße liegt, die die Stadt durchquert.

Dieser breit ausgebauten, für LKW ausgelegten Hauptverkehrsader muss der Stadtkern geopfert worden sein, den ich bislang nicht ausmachen konnte. Die Läden des Örtchens sind in maximal zweistöckigen, steinigen Bauten an der Straße aufgereiht wie Stockfische im Todeskampf. Ich erlebe das kleine Städtchen als „am Tropf hängend“. Es gibt schöne Ecken und Winkel. Die, die ich gefunden habe, sind von direkter Straßen- und Fabrikszenerie umgeben.

Für Staub und Lärm sorgen neben dem Durchgangsverkehr die Kalk- und Betonwerke, die teilweise nahezu im Stadtinneren gelegen sind. Und dann gibt es noch die riesige Biermacherei, die den Namen dieses idyllischen Ortes zum Markenzeichen gewählt hat. Sie ist mit ihrem modrigen Produktionsgeruch ständig präsent und nimmt vermutlich durch ihre nicht unerheblichen Steuerabgaben ebensolchen Einfluss auf die politischen Entscheidungen.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich als Lebensstoffinfusionslösung die LWL Klinik, in der ich gerade Insassin bin und die vielen Menschen nicht nur befristeten Lebens- und Arbeitsraum gibt und somit ebenfalls zum Erhalt der Wirtschaftskraft Warsteins sorgt.

Was macht diesen Ort richtig oder falsch für mich?

Werde ich in absehbarer Zeit einen Ort finden, der sich richtig anfühlt?

Wird dieser Ort dann in absehbarer Zeit auch zu mir „Ja“ sagen?

Wird er „Ja“ sagen können – also die Rentenversicherung einverstanden sein?

Die Zeit drängt.

Was ich durch die Gespräche mit den hier Lebenden gelernt habe ist: Soziale Absicherung ist ein hohles Wort. Wenn der Fischer nicht fischen will, sondern sparen, auf andere Netze verlegen, etc. hat das Netz sehr große Löcher. Schnell ist man auch aufgrund von Wartezeiten aus der Lohnfortzahlung, dem Krankengeld, dem Arbeitslosengeld und ab in ALG 2.

Es fühlt sich trotz all den vielen Monaten in Klinken, auf Wegen immernoch so unwirklich an.

Kann ich wirklich nicht mehr die sein, die irgendwie funktioniert? Die den Schalter umlegen und einfach wieder funktionieren kann – und das auch wirklich will? Die für ein bisschen Arbeit einen Haufen Geld bekommt? Die sich um die Zukunft keine Gedanken machen muss? Die sich um Geld keine Sorgen machen muss, um nichts, was da kommen könnte?

Kann es wirklich sein, dass die Ärzte richtig liegen, dass das stimmt, was in den Entlassungsbriefen steht? Was steht da eigentlich? Wie kann ich verstehen lernen, was da steht? Und mich darin erkennen?

Passiert das alles wirklich mir?

Ist es wirklich wahr?

Was?

Welche Wahrheit hätte ich denn gerne?

Darf’s ein bisschen mehr vom Begreifen sein? Von Zuversicht und Vertrauen? Von Vision und Tatkraft? Freude und Neugier?

Ja, bitte, gerne…

Aber wie?

 

 

 

Kunsttherapie

Fr. Moosgrün-Hellwachsanftgemüt* (*nee, net wirklich 😉 ), Kunsttherapeutin der Herborner Klinik, führte kurze Einzelgespräche mit den ca. zehn Teilnehmern, die sie nicht alle schon kannte. Eine nachvollziehbare Reihenfolge war für mich nicht zu erkennen. Ich war die Letzte und verwechselte mich mit „das“. Bis zu diesem Zeitpunkt war mein innerer Druck schon durch das Betrachten der Werke anderer Therapieteilnehmer in Zusammenhang mit dem Warten, meiner Unruhe und die Ratlosigkeit, was ich denn tun wolle und könne, deutlich spürbar angestiegen. Als sie mich ansprach erklärte ich mich knapp, verabschiedete mich hastig und floh weinend aus meiner ersten Kunsttherapiestunde.

Vierzehn Tage später wusste ich schon etwas besser, was auf mich zukommt. Kurz zuvor hatte ich in meinem Chor „Friedrich, den Ermutiger“ ausgemacht und wollte die Gedanken dazu mithilfe eines Bildes ein bisschen verfestigen. Fr. M. schlug mir ein Format vor, ich wählte ein noch größeres. „Gute Idee“ meinte sie, händigte mir Malkreide aus und stellte mich so ausgerüstet an die Staffelei. Noch nie zuvor habe ich an einer Staffelei gemalt! Ich war recht ausgelassener Stimmung und ging so unüberlegt wie möglich ans Tun. Noch bevor die Kritiker das Wort ergriffen, erklärte ich das Bild für gelungen und vollendet. Ein paar Takte drüber sprechen. Klar, ohne Scham geht’s nicht. Aber das Bild begleitet mich seit dem Tag. Es ist da, wo ich schlafe und aufwache. Zumindest als Abbild auf dem Handy.

 

Was denn heute anstünde? Ich habe Schwierigkeiten damit, wahrzunehmen, was ich will und mich dann auch dafür zu entscheiden, meinte ich. Und gerade jetzt könnte ich das so offen stehen lassen. Ob sie denn eine Idee habe, wie ich mich annähern könnte an mich und an „das“?

Ja, meinte Fr.M., da gäbe es was:

Ein Schichtbild.

Malen mit zwei bis drei Lieblingsfarben. Mithilfe eines von ihr ausgeschnittenen Passepartoutrahmens eine Stelle aussuchen, die bleiben soll.

Dann wieder Farben / Material wählen und eine neue Schicht auftragen, also das alte Bild übermalen. Erneut eine Stelle entdecken, die bleiben soll…

Ich erinnere mich noch gut an die Scham beim Malen, aber besonders intensiv an meine Schwierigkeiten, etwas auszusuchen, das es wert sein soll, beschützt zu werden. Was macht es besser oder schlechter als den Rest des Bildes?

Darf nur „das Besondere“ bleiben?

Aber:

Ich muss nicht alles zerstören. Es darf etwas bleiben, das mir gefällt, am Herzen liegt.

Und dann das Übermalen:

Weg! Für immer weg!

Spüren, wie sehr ich am Alten hänge. Schmerzlicher Trost des Gebliebenen. Aber auch entdecken, das eine neue Schicht auch ungeahnte, eigene Wunder bergen kann.

Wählen der neuen Farbe! Ich nahm Pink. Es sollte ja zur vorhergehenden Schicht passen… sagte Fr. M.

Warum eigentlich?

Außerdem entdeckte ich noch einen Farbrest vom Vormittag….

lch wählte allen Ernstes eine Farbe für mich, weil sie von anderen übrig gelassen worden war!!!

Zuletzt sollte ich Ruhe reinbringen, meinte Fr.M.

Ich spürte recht deutlich, wie wenig Lust ich auf Ruhe hatte, folgte aber ihren Anweisungen und wählte Grau. Und Silbertrost. Aber der konnte auch nichts mehr retten.

Eigentlich klar:

Ich konnte das „fertige“ Bild so wenig leiden, dass ich es mir am Ende der stationären Behandlung nicht vorstellen konnte, es mitzunehmen. Fr. M. lud mich ein, es dort bei ihr zu lassen und später nochmal aus der Tagesklinik nach ihm zu sehen und spüren, ob ich es dann vielleicht mitnehmen wolle.

Das tat ich dann auch. Dort zurückbleiben sollte es auch nicht.

Möchte mich richtig verabschieden zu seiner Zeit.

Oder….

…noch eine weitere Schicht auftragen.

Zu meiner Zeit, mit meinen Farben, meiner Idee von Auswahl, Schwung und Ausdruck, meinen Entscheidungen folgend.

Brief

Wetzlar, 7.7.2018

Liebe…

Der Markt findet gerade sein Ende. Sonne scheint auf die bunt gestreiften Stoffdächer der Stände, unter denen geübte Hände die Abbaurituale abspielen. Die Stimmung wirkt zufrieden. Was mag auf sie zu Hause warten?

Ich sitze in Wetzlars Kaffeerösterei mit Blick auf den „Dom“, der keiner ist. Ich gehe gerne auf den Markt und trinke überteuerten Kaffee, serviert mit selbstgebackenen Plätzchen in Herzform. So oft konnte ich hier schon das Sein üben. Das Seinlassen, das Daseinlassen, auch im Sinne des Aushaltens von Sehnsuchts- bzw. emotionalen Allergieauslösern.

Ja, im Moment könntest Du mich wohl mögen. Die freundliche, offen-herzliche Seite, die Du in Deinem letzten Brief gesondert angesprochen hast. Habe beim Lesen trotzig darauf reagiert, kannst Du Dir vermutlich denken. Denn ich bin ein Ganzes, trotz aller Zerrissenheit. Und ein Teil schreit „Hab‘ mich lieb – ich tue alles dafür!“ und ein anderer Teil wendet sich angewidert von sich selbst ab. Ein Teil weiß von den Spielchen, die alle spielen und erlaubt sie allen, nur nicht sich selbst. Dann ist die Milde im Raum („Die Milde, Mathilde“). Sie hat meistens die scheue Zuversicht dabei. Und Christoph, mein Mitgefühl hat fast überall Zugang, wenn ich ihn als Geschenk, eine fremde, aber angenommene Wertigkeit von außen betrachte. Adoptiert sozusagen.

Wind streicht über den Platz.

Ich hol‘ Dich ein bisschen näher.

Die „Alten“ haben es ein bisschen leichter mit mir, glaube ich. Die alten Freunde, die mich von früher kennen. Ein Ganzes sehen können, auch die alten Gemeinsam-Zeiten. Nicht nur das Karin der letzten zwei Jahre.

Ist es wie eine Geburt? Ein Trennen und Finden. Gleichzeitig. Ich tue mich schwer damit. Uffenheim war wohl eine Art Kaiserschnitt 😉

„Wasch‘ mich, aber mach‘ mich nicht nass.“

Es hilft nichts, das Ändern nur im Außen leben zu wollen. Ich muss ans Eingemachte. Irgendwie…

So viel zur Theorie 😉 (mal wieder…)

Es wird gerade Kaffee geröstet. Ich kenne den Geruch aus der Nähe, aber hier draußen ist er angenehm: Verbrannt und aromatisch zugleich. Streng und voller Reize… „Komm‘ näher, ich bin nicht zu durchschauen. Aber ich könnte schmecken. Du musst mich versuchen. Oder mir widerstehen.“

Was ist das Richtige für mich? Für Dich?

Das Suchen, die Verzweiflung, das geliebte Leiden lassen. Dasein oder von ihm ablassen? Das Warten auf Rettung, das Sehnen in der Fremde, bei Fremden (Menschen). Aber was dann? Leere. Ich mit mir? Alleine? Ach nee…

Hr. S., mein Therapeut meinte: „Das Schlimme ist nicht das …xyz… sondern der Widerstand dagegen. Kann man gegen Leere Widerstand haben? Schon wieder Widerstand. Erwischt.

Es wird schon gut sein. Es? Ja, jetzt, dieser Moment. Er wird schon gut sein. Er wird es schon gut mit mir meinen. Der „Jetzt“. Wieder und wieder.

Zuversicht, Du Scheue, ich danke Dir für’s Dasein. Jetzt. Mit Dir traue ich mich zu sein. Einseitig, versteckt, mutig, feige, scheu, zerrissen, unperfekt. Mit Dir traue ich mich

zuzumuten.

Karin

aber vielseitig ganz