Es ist Sonntag. Ich habe in der für mich gemütlichen Küche einen guten Platz gefunden. In meiner kleinen Zelle unter dem Dach hätte ich mich nicht so wohl gefühlt.
Die vielen, großen, über hundertjährigen Bäume werfen ihre Schatten auch hier hinein. Beschützen, begleiten und beruhigen mich. Ein wunderbares Gelände: Weiträumig, großzügig, an einen Park erinnernd.
Vom Fernseher des Tagesraums klingen Geräusche in meine Ohren, auf die ich gerne verzichten würde. Ein Rehabilitant hat es sich langgestreckt auf dem Sofa gemütlich gemacht und zappt. Er macht das oft: Er wird „Papa“ genannt.
Die meisten der wenigen Anwesenden sind wohl momentan auf dem Raucherbalkon zu finden, der langsam, aber sicher von der Sonne erobert wird.
An Wochenenden ist hier niemand, der dafür Lohn bekommt. Die Stimmung ist entspannt, man begegnet sich freundlich im Vorbeigehen oder beim Instantkaffeebrauen.
Heute ist der Fünfte von sieben Tagen meines Probewohnens in der hiesigen Einrichtung zur RPK („Rehabilitation Psychisch Kranker“). Hier wohnen schätzungsweise bis zu 18 Menschen über Monate zusammen. Die meisten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, wobei die Anzahl der Männer überwiegt. Ziel ist es wohl, in einer Kombination aus medizinischer und beruflicher Rehabilitation Stabilität und Orientierung im Leben zu finden. Vielleicht das zu finden und einzuüben, um das Leben irgendwie leben zu können. Üben vielleicht, äußere Regeln einzuhalten oder innere blockierende Regelhaftigkeiten loslassen zu können.
Es kann passieren, dass man in den ersten Wochen im Zweibettzimmer untergebracht ist. Aber irgendwann darf hier jeder umziehen in einen eigenen Bereich. Sanitäranlagen aus den geschätzten frühen Siebzigerjahren befinden sich auf dem Flur.
Zu Beginn sind die Alltagsfähigkeiten im Fokus: Tagesstrukturierung und Hauswirtschaft. Nachmittags steht täglich eine Sporteinheit auf dem Programm. Kommt man in „Stufe Zwei“, kocht und hauswirtschaftet man nicht mehr gemeinsam mit den zwei wöchentlichen Probewohnern, sondern für sich alleine. Zudem steigert man in den zahlreichen Einrichtungen der Klinik (Metallwerkstatt, Gutshof mit Bioladen, Tieren, Gärtnerei) sowie in verbundenen niedergelassenen Betrieben seine tägliche Belastbareit stundenweise bis zur individuellen Grenze. Die Praktikumsstellen werden nach persönlichen Fähigkeiten mit Hilfe der beziehungsweise von den Ergotherapeuten vermittelt. Mir scheint, der Schwerpunkt liegt klar in der beruflichen Rehabilitation. Die medizinische Reha findet in einem wöchentlichen Gespräch mit dem psychologischen Dienst statt. Ebenso oft gibt es eine psychotherapeutische Gruppentherapiestunde mit offenen Gesprächsthemen, die aber nur für bis zu zwölf Teilnehmern offen steht. Ich dachte, ich würde hier intensiv DBT kennenlernen, aber das ist nicht der Fall. Die Ambulanz der Klinik bietet, in Modulen aufgegliedert, eine Skillsgruppe nach Linehan an. Momentan ist bis Oktober Urlaubspause. Eine Begleitung dieser, wenn, dann ein Mal wöchtentlich stattfindenden Gruppenstunden wird nur bei Bedarf und nach Anfrage durch die hiesigen Sozialpädagogen gewähleistet.
Die gesamte RPK Maßnahme dauert hier meistens zwischen neun Monaten und einem Jahr.
In fünf Minuten sind Lidl und Edeka zu Fuß zu erreichen. Freies WLAN gibt’s bei Mc Donalds in zwei Kilometern Entfernung.
Warstein liegt am nördlichen Rand des Sauerlandes. Gestern war ich zum Aussichtspunkt Lörmecketurm Wandern – mit Genuss. Und Motorradfahrer finden hier auch viel zum Erkurven.
Klar habe ich noch nicht viel gesehen von der Stadt. Habe sie durchquert, mal erfolglos versucht, in einer Kirche Einblick zu erhalten und in der Eisdiele gesessen, die in den wichtigsten Kategorien „Nusseis“ sowie „Cappuchino“ glatt durchfiel und zudem an der vielbefahrenen Straße liegt, die die Stadt durchquert.
Dieser breit ausgebauten, für LKW ausgelegten Hauptverkehrsader muss der Stadtkern geopfert worden sein, den ich bislang nicht ausmachen konnte. Die Läden des Örtchens sind in maximal zweistöckigen, steinigen Bauten an der Straße aufgereiht wie Stockfische im Todeskampf. Ich erlebe das kleine Städtchen als „am Tropf hängend“. Es gibt schöne Ecken und Winkel. Die, die ich gefunden habe, sind von direkter Straßen- und Fabrikszenerie umgeben.
Für Staub und Lärm sorgen neben dem Durchgangsverkehr die Kalk- und Betonwerke, die teilweise nahezu im Stadtinneren gelegen sind. Und dann gibt es noch die riesige Biermacherei, die den Namen dieses idyllischen Ortes zum Markenzeichen gewählt hat. Sie ist mit ihrem modrigen Produktionsgeruch ständig präsent und nimmt vermutlich durch ihre nicht unerheblichen Steuerabgaben ebensolchen Einfluss auf die politischen Entscheidungen.
Nicht unerwähnt lassen möchte ich als Lebensstoffinfusionslösung die LWL Klinik, in der ich gerade Insassin bin und die vielen Menschen nicht nur befristeten Lebens- und Arbeitsraum gibt und somit ebenfalls zum Erhalt der Wirtschaftskraft Warsteins sorgt.
Was macht diesen Ort richtig oder falsch für mich?
Werde ich in absehbarer Zeit einen Ort finden, der sich richtig anfühlt?
Wird dieser Ort dann in absehbarer Zeit auch zu mir „Ja“ sagen?
Wird er „Ja“ sagen können – also die Rentenversicherung einverstanden sein?
Die Zeit drängt.
Was ich durch die Gespräche mit den hier Lebenden gelernt habe ist: Soziale Absicherung ist ein hohles Wort. Wenn der Fischer nicht fischen will, sondern sparen, auf andere Netze verlegen, etc. hat das Netz sehr große Löcher. Schnell ist man auch aufgrund von Wartezeiten aus der Lohnfortzahlung, dem Krankengeld, dem Arbeitslosengeld und ab in ALG 2.
Es fühlt sich trotz all den vielen Monaten in Klinken, auf Wegen immernoch so unwirklich an.
Kann ich wirklich nicht mehr die sein, die irgendwie funktioniert? Die den Schalter umlegen und einfach wieder funktionieren kann – und das auch wirklich will? Die für ein bisschen Arbeit einen Haufen Geld bekommt? Die sich um die Zukunft keine Gedanken machen muss? Die sich um Geld keine Sorgen machen muss, um nichts, was da kommen könnte?
Kann es wirklich sein, dass die Ärzte richtig liegen, dass das stimmt, was in den Entlassungsbriefen steht? Was steht da eigentlich? Wie kann ich verstehen lernen, was da steht? Und mich darin erkennen?
Passiert das alles wirklich mir?
Ist es wirklich wahr?
Was?
Welche Wahrheit hätte ich denn gerne?
Darf’s ein bisschen mehr vom Begreifen sein? Von Zuversicht und Vertrauen? Von Vision und Tatkraft? Freude und Neugier?
Ja, bitte, gerne…
Aber wie?