Petersilie verrücken

Um sie besser einschätzen zu können, mich von ihnen distanzieren zu können, auf dem Weg mit mir besser umgehen zu lernen, habe ich bestimmten meiner Gefühls-. Verhaltens- bzw. Denkmustern Namen gegeben und umschreibe sie als Persönlichkeiten, als „Stimmen in meinem Chor“. Und ich bin ihr Dirigent, ob ich will, oder nicht.

Manchmal habe ich Lust, mich dieser Aufgabe zu stellen. Möchte lernen, die Stimmen zu ermutigen, das zu tun, was dem Chor dient, statt das zu tun, was sie schon immer getan haben und was sich oft schlimm angelebt hat.

Sie alle wollen mir dienen oder haben das in vergangen Zeiten getan. Alle haben wundervolle Eigenschaften, die ich für mich nutzen könnte. Nur singen sie alle durcheinander, drängen sich vor oder sind zu träge, halten sich für zu wichtig oder gerade nicht, stören oder schweigen. Sind eigensinnig oder verschüchtert, singen zu laut oder sind heiser. Manche verstecken sich. Andere sollten ich besser zum Schweigen und Zuhören (einfach auf andere Stimmen vertrauen, loslassen) oder zum Instrumentenwechsel (z.B. Musiktheorie, Raumpflege, Summen) ermutigen.

Aber ich verstecke mich noch oft im Zuschauerraum. Habe mir Petersilie in die Ohren gesteckt und halte mich für schwerhörig. Denke, ich sei unmusikalisch, gebe auf, statt meine Lieblingsmeldodie zu finden und mich trauen, sie zu benennen und zu ihr zu stehen.

Klingt das alles verrückt? Ja, ist es vielleicht.

Wenn man Verrücktsein als eine Abweichung dessen sieht, was unverrückbar richtig oder falsch scheint.

Somit tue ich, was ich kann, um verrückt zu sein. Auch wenn es wenig ist. Denn ich glaube, das, was unverückbar war oder manchmal noch zu sein scheint, bringt mich früher oder später um ein natürliches Sterben und/oder um einen friedlichen Tod.

Es ist mein Weg. Auf den ich manchmal sogar ein bisschen stolz bin.

Auf ihm kann ich es vielleicht versuchen, zu gehen. Andere Wege sind von meinem Nichtvertrauenkönnen – oder ist es Hochmut? – verseucht, versiegelt, verschüttet gegangen.

Und warum gerade diese Namen? Ganz sicher haben sie so gut wie oder gar nichts mit Menschen zu tun, die denselben Namen tragen. Das will ich gar nicht: Mein Gehirn spielt Puzzle.

So ist Charlotte meine Scham, Friedrich mein Ermutiger. Es gibt bisher noch zwei weitere Namensträger:


Stefan kenne ich schon sehr, sehr lange. Er ist mir ein vertrauter Begleiter und spendet mir mit Treue und Verlässlichkeit Trost.

Er sagt sowas wie: „Ich weiß, wie es Dir geht. Ich weiß, wie Du leidest. Und Du weißt, ich bin immer für dich da.“

Er ist sanftmütig, obwohl er der Selbstmordgedanke ist.

Und obwohl es vielleicht danach klingt – mit „I.“ hat er gar nicht so viel zu tun.


„I.“

Ihr wird kein Name gerecht. Und ihr ist das auch sowas von egal. Sie braucht keinen Namen. Sie ist.

Wie soll ich das in Worte fassen?

Was geschieht, wenn sie…

Erscheint? Lächerlicher Ausdruck. Sie kommt nicht einfach an, dringt nicht ein, taucht nicht auf, tritt nicht be.

Sie ist eine Diva, eine Furie, ein Hurrican.

Sie nimmt ein.

Sie ist berauschend, faszinierend, schön. Fern von jeder Gewöhnlichkeit.

Wild. Unzähmbar. Voller Kraft. Strahlend vor Energie. Und gleichzeitig eiskalt.

Sie ermächtigt sich meiner nicht. Sie ist Macht.

Sie fesselt nicht. Ich erliege ihr.

Alles erstarrt an ihrem Wesen, zerfällt zu feinem Staub, wird im Druck ihres Seins zur Flucht verweht.

Nichts anderes mehr hat Bestand, nur sie ist da.

Ich höre und sehe Leben, bewege mich, finde für andere statt. Nehme alles wahr, sehe und höre aber nur noch sie.

Meine Wahrheit ist in ihrem Besitz.

Sie ist Gesetz. Und ich glaube ihr jedes Wort.

Sie besteht aus purer Verachtung und ihr Urteil ist vernichtend.

In ihrer Wahrheit kann es für mich nur eine Lösung geben.

Und der bin ich gefolgt.


„I.“ ist in meiner Wahrnehmung recht neu. Sie hatte geschlafen und ich habe sie geweckt. Ich kann mich noch an die enge, links am Hang verlaufende Kurve des PCT’S erinnern. Die Einsamkeit, die ich spürte, war die aus meiner Kindheit. Untröstlich, unlösbar. Die Kleine hatte Angst, brauchte verdammt nötig dringend Halt und Vertrauen und ich dachte, da muss doch irgendwo in meinem Chor eine Stimme sein, die stark genug ist, sie zu sichern. Ja, I. ist stark, aber…

Vielleicht hat sie einfach weiter schlafen wollen? Wähnte sich im sicheren Fürimmerwinterschlaf? Egal: Ich bin der Dirigent und ich glaube, es war an der Zeit. Ich brauche ihre Kraft.

Nun aber ist sie wach, die Wilde, und richtet ihre Wut auf mich.

Ja, sie kommt mit jedem Mal näher. Aber das ist vielleicht auch notwendig.

Um sie zu spüren zu lernen. Um sie einzuladen….

Denn ihre Kraft, ihre Energie, ihre Entschlossenheit und vor allem die Faszination, den Zauber, den sie in mir auslöst, könnte ich wahrlich für etwas anderes im Leben gebrauchen als für die Selbsterniedrigung.

So will ich Freundschaft schließen mit dieser wilden Wut. Zähmen kann und will ich sie gar nicht, sie soll so bleiben. Denn sie ist auch schön und ihre Stimme wird gebraucht. Nur soll sie für den Chor singen lernen, statt ihn zu verhöhnen, zerstampfen, in Angst zerstreuen.

Wie kann ich mich ihr nähern?


Vor ein paar Tagen hatte sie wieder Besitz von mir genommen und ich versuchte die erlebte Ehr-Furcht mithilfe von Worten zu fassen.

Atemraubend.

Das Wort ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Weil es so ist. Mir stockt der Atem, wenn ich in dieser, ihrer Wahrheit stecke. Ich fühle den tief empfundenen Wunsch, aber auch den Sinn und die Logik, mit dem Atmen endlich aufhören zu wollen und zu können.

Aber der Atemreflex siegt. Der Körper siegt, siegt über ihren Einfluss. So kann mein Verstand sie nicht wirklich erreichen, aber vielleicht mein Körper Vermittler sein. Denn der Atem fließt immer weiter, ist blind und taub, lässt sich – ohne Gewalteinwirkung – nicht beirren, so sehr sie auch wütet.

Und vielleicht kann er mir helfen, uns – meine Selbstverachtung und mich – gemeinsam und gleichzeitig da sein zu lassen. Denn das ist notwenig, damit sie mich und meine anderen Anteile neben sich ertragen lernt.

Auf meinen Körper hören. Weiteratmen. Ausatmen, eineinatmen. Sie da sein lassen. Mich da sein lassen.

So glaube ich auch, er, mein Körper, nimmt sie wahr, lange bevor sie sich hinter dem Vorhang der Bühne nähert. Er kann sie erahnen, versucht, mich zu warnen. Aber alles, was ich verstehe, ist „diffuse Anspannung“ und die habe ich ja so oft…

Ich mache mir einfach nicht die Mühe, genauer hinzuhören.

So könnte ich sie in Würde und Respekt erwarten, den nötigen Abstand wahren um den wahren Grund ihres Zorns zu erfahren. Lernen, wann und warum sie begonnen hat, so zu singen. Was sie antreibt, es heute noch zu tun. Aufrechte, mutige Zuwendung, statt tatenloses Zusehen und automatisiertes Erliegen.

Lauscher schärfen, Fr. Nies!

Petersilie verrücken!!!

 


Petersilie in die Ohren? Da war doch was…?  Ja, vielleicht erinnert sich der eine oder die andere an „Asterix als Gladiator“: In diesem Comic-Klassiker schafft bei den Anwesenden gegen das unbeschreibliche Tönen des unbeirrbar selbstüberzeugt singenden Barden Troubadix nur → das zeitweise Linderung.

Und noch ein Gedankenbonbon findet sich im → Asterix-Lexikon zu Troubadix:

„Sein Name stammt vom französischen Wort Troubadour (provenzalischer Minnesänger des 12.-14.Jahrhunderts) ab. Im französischen Original trägt er den Namen Assurancetourix, was dem Ausdruck „assurance tous risque“, also einer Vollkaskoversicherung entspricht. Und tatsächlich rettet er die Gallier aus schier ausweglosen Geschichten, zum Beispiel als er im Band „Asterix und die Normannen“ Grautvornix mit seinem Gesang das Leben rettet oder in „Asterix im Morgenland“ den Kopf der Prinzessin Orandschade eine Sekunde vor der Stunde Null vor dem Henker rettet…“

Selbst der schrecklichste Ton kann zu seiner Zeit nützlich (gewesen) sein.

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