Essfreizeit

Nach neunzehn Tagen merkte ich beim Radfahren, dass mir mehr und mehr die Kräfte schwanden. Die Etappen waren nicht kürzer geworden, aber ich brauchte Pausen und immer öfter mied ich auch die kleinsten Steigungen oder ich musste wegen meiner zustande gebrachten Geschwindigkeit akut befürchten, von gerade erst passierten Spaziergängern in Schrittgeschwindigkeit überholt zu werden…

Ansonsten ging es mir weiterhin gut. Und ich hatte mir gesagt, dass ich dann aufhöre zu Fasten, wenn ich mich gut fühle. Wenn sich der Zeitpunkt richtig anfühlt. Und wenn ich einen klaren Plan habe, wie es mit meiner Ernährung weiter gehen soll und kann.

Als ich vor neunzehn Tagen morgens auf der Waage stand, fühlte ich mich, wie von einem harten Schlag getroffen, aus irgend einem Traum wachgerüttelt: Ich erkannte deutlich, wie hilflos ich mich wieder in meinem gestörten Essverhalten gefangen fühlte. Und weil ich schon oft im Leben viele Kilos ab- und wieder zugenommen habe, konnte ich mir denken, wohin mich dieser Strudel wieder bringen würde.

Die Zahl auf der Waage gab den Ausschlag, endlich zu dem Werkzeug „Fasten“ greifen zu können: Fasten als Strategie, vom krankhaften Essverhalten Abstand zu gewinnen. Ich wollte dem Darm und seinen Bewohnern eine Pause gönnen und dann ganz von vorne anfangen.

Die ersten Tage waren nicht einfach. Ich erinnere mich besonders an diesen einen Tag, an dem ich bis nachmittags im Bett lag. Eingepackt in Selbstverachtung. Es dauerte lange, bis ich mich überwinden konnte, um Hilfe zu bitten. Wen oder was auch immer. Einfach schweigend ins Leere.

Um etwas zu Bitten ist ein Ende der Ohnmacht.

Es brachte mich zum Aufrichten. Ich saß. Ich spürte Linderung indem ich einfach saß. Und später dann tiefe Dankbarkeit über dieses Erleben von Erleichterung.

Bei einem Telefonat am Abend hörte ich von einer Freundin, dass man beim Fasten auch seelisch entrümple. Dieser Gedanke half mir noch ein bisschen weiter, diesen Leidensmodus in anderem Licht zu sehen. Denn noch ein paar Tage zuvor hätte ich ihn nicht einfach ins Leben gelassen. Bei allem Unbill oder gar nur, weil sonst alles mühsam schien, aß ich. Eine alte Gewohnheit, die mir schon in Kindertagen geholfen hat: Essen zur Belohnung, zur Beruhigung, zur Selbstbesänftigung, zum Trost und zur Füllung jedweder Leere – bei Sehnsucht oder Langeweile, egal. Essen dämpft alles.

Und die anschließende Selbstkasteiung durch Schuldvorwürfe und Entwertung halten den Kreislauf aus Selbstverurteilung und zwanghaftem Essen in Schwung.

Nach diesem Tief in den ersten Tagen ging es deutlich bergauf mit meinem Befinden. Ich konnte wieder klarer denken und freute mich darüber, wie einfach das Leben während des Fastens ist: Kein Gedanke an Ladenöffnungszeiten, Kühlschrankfüllung oder Sonderangebotsjagden. Kein Rätseln über Zeitpunkt, Mengen und Inhalten von Mahlzeiten.

Mein Geschmack änderte sich: Statt mehreren Tassen Kaffee täglich gab es Tee. Statt zwei Beuteln Tee pro Kanne, teilweise mit Süßstoff, verdünnte ich mir nun die gleiche Menge ungesüßten Einbeuteltees mit reichlich Wasser. Meine ständig Lust auf „Verbotenes“ war weg. Und Hunger hatte ich nie.

Der so zwingend erlebte Gedanke „Ich MUSS jetzt was essen!!!“ löste sich in Luft auf.

Was für eine Erleichterung!

Nun esse ich schon den dritten Tag wieder. Meine Entscheidung, keinen Zucker (sowie keine Zuckerersatzstoffe) und kein Weißmehl mehr zu mir zu nehmen, Obst auf zwei handvoll täglich zu reduzieren und ab nachmittags möglichst keine Kohlenhydrate mehr zu essen, fühlt sich gerade sehr gut an. Wo ich vor ein paar Wochen noch bei jeder Bäckerei darüber nachdachte, was ich mir denn darin holen könnte, kann ich sie zur Zeit einfach an mir vorbei ziehen lassen: Sie haben nur Dinge im Angebot, mit denen ich nicht umgehen kann. Und sie haben nichts von dem, was ich wirklich möchte.

Ich möchte ein gutes Gefühl haben beim Essen.

(…und damit meine ich nicht das extrem kurzfristige Gefühl einer befriedigten Ersatzgier beim Biss in ein Sensationssüß…)

Ich bin dankbar dafür, so viel freie Zeit zu haben – und der Aufbruch in die neue Ernährungsform fühlt sich ein bisschen an wie die Reise in ein unbekanntes Land. Ich stelle es mir freundlich und einladend vor. Als Reiseführer dienen mir verschiedene Kochbücher, die ich in der – endlich wieder geöffneten – Stadtbibliothek für mich entdeckt habe. Ich bin gespannt darauf, was ich noch alles ausprobieren werde… Heute gab es eine Geschmacksexpediton in Form von frisch gemahlenen Fenchel-, Kümmel- und Anissamen, sowie mildes indisches Gewürzpulver, geschmort in Kokosöl als Basis für ein Curry aus Kokosmilch, Mandelmus, Süßkartoffel und frischen Gemüsen…

Das war echt lecker!