Kolleginnen

Donnerstag, der 5.Juli 2018, 10:15 Uhr

Gerade sitze ich im Café. Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, die Therapiestunde hier ein bisschen nachwirken zu lassen. Die inzwischen vierte Einheit (Verhaltenstherapie, genauer: Schematherapie) ist gerade vorüber. Ich glaube, ich bin in guten Händen.

Wenn ich einen Menschen treffen würde, der so ist, wie ich, wollte ich nichts mit ihm zu tun haben. Es wundert mich auch heute nicht mehr, dass ich früher mit Menschen meiner Art auch auf Arbeit nicht umgehen konnte: Ich fand Menschen, die sich benehmen wie ich, immer befremdlich, unnahbar und anbiedernd zugleich. Kein Wunder: Sie spiegelten mir meine Eigenheiten, meine Unfähigkeit, meine Ratlosigkeit und meine Selbstablehnung.

Puh. Butter bei die Fische.

Ich bin manipulativ. Und wohl in diesem Moment auch schon wieder. So viele Herzen in meiner Brust…

Ich versuche mich mal selbst anzunähern, indem ich den Spiegel eines Menschen nutze, dem es gerade so ergeht, wie mir immer mal wieder.

Dieser Mensch kann nicht anders, fühlt sich tatsächlich so, wie er sich verhält. Zerrissen zwischen „Nein“ und „Muss“, „ja, endlich“, „stimmt“, „nicht“, „doch“, „aber“, „bleib‘ doch“, „nur nicht weggehen“ und „nur weg hier“, „aber wohin denn“ „niemand ist richtig“ „ich bin falsch“. Und er spürt es und findet sich gleichzeitig „aaah, endlich, endlich spürbar“ und „völlig unecht/übertrieben/aufgesetzt/krank“ und einfach „unerträglich“ für sich selbst und alle anderen wegen dieser gelebten „quälend erlebten faszinierenden Endlichspürbarkeit“.

Was kann eine psychiatrische Fachkrankenschwester für so einen Menschen tun? Was würde ich heute zu dieser getriebenen, hysterischen, hektischen, aufgelösten, nervigen, unbelehrbaren, erwachsenen Person sagen, die sich verhält wie ein kleines, so ängstliches wie trotziges Kind?

„Fr. N., ich sehe, wie verzweifelt sie sind.“ (und mir kommen gerade selbst die Tränen beim Schreiben dieser Worte) „Das darf sein. Das ist wahr und darf so sein, denn es ist gerade im Moment so und es ist nicht schlimm für mich. Für sie aber schon? Das sagt mir ihr verächtliches, spöttisches Schnauben. Ich bleib‘ einfach ein bisschen bei Ihnen. So lange, bis Sie sich selbst wieder genug Gesellschaft sein können oder sie woanders suchen wollen. Ich bleib bei Ihnen, so lange, bis „es“ wieder leichter ist. Und wenn wieder alles zusammenbricht, werde ich wieder da sein. Ich oder ein anderes Mitglied des Teams/Chors. Ich weiß, dass sie nicht anders können. Ihr Verhalten ist Spiegel ihrer inneren Welt. Zerrissen, zerfetzt. Mühsam versuchen sie, die Stücke wieder zusammenzusetzen: „Es“ muss doch irgendwie passen, wieder heilen, richtig werden. Dabei sehen sie nicht, dass alles passt, so wie es ist. Dass Sie sind. Richtig. Einfach. In diesem Moment. Sie selbst können sich vor lauter Fetzen nicht sehen. Sie können es einfach nicht. Punkt. Ich weiß das. Ihre Freunde aber können sie sehen. Deshalb tun Ihnen ihre Freunde bzw. zeitweise ihre Therapeuten so gut im Moment.

Fr. N., sie müssen zur Ruhe kommen (und sie schaut mich gerade brennend vor Wut an, spöttisch, mit besserwisserischem, herablassenden Zucken im Mundwinkel). Ob sie das hören wollen, oder nicht. Lassen sie die Fetzen los, die Hände sinken. Ich bleibe bei ihnen. Auch wenn sie die Fetzen wieder an sich reißen, weil es sich anfühlt, als verlören sie jeden Halt, als verböte man ihnen das Sein, als reiße man Ihnen eines ihrer Herzen schlagend aus der Brust.

Es muss sein. „Aus gesundheitlichen Gründen“ wie ihr Therapeut freundlich, aber nachdrücklich argumentierte. Ihr oberstes Ziel sei und ist „Ruhe“, wie sie selbst wissen. Ruhe. Damit ihr innerer Chor sich wieder mit ihnen zusammen finden kann.

In ihrem Leid sind sie nicht immer zu ertragen. Sie wissen das selbst nur zu gut. Sie werfen Rätsel auf, die nicht zu lösen sind („Wasch mich, aber mach‘ mich nicht nass“ – „Hilf mir, aber helfen kann mir ja doch keiner. Und ich muss es selbst schaffen. Aber ich kann doch nicht!!!“ – „komm, aber ich halte Dich nicht aus, ich bin nicht auszuhalten, halt mich“). Aus gesundheitlichen Gründen brauchen nicht nur sie Pausen, sondern auch ihre Freunde. Auch die können manchmal nur noch die Fetzen sehen (und nicht mehr das Mensch, das Herz, die Seele, die Ruhe, das Ganze, das Wesen, das Liebende, das schlichte, schöne, einfache Seindürfen, das Vertrauen, das reine, verlässliche Blau… blablabla). Ihr oberstes Ziel ist Ruhe, nicht das Produzieren von Fetzen und nicht das hektische Versuchen, diese zusammenzusetzen. Lassen sie die Hände sinken, die Fetzen zu Boden rieseln, sie sich ihren Platz suchen und sie selbst „Sichselbstsein“ üben.

Sie erinnern sich an das Gitterstäbebild? Das Gefangensein in alten Glaubenssätzen, Zwängen, Muss-Vorstellungen, der Selbstentwertung? Es könnte sein, dass sie Flexen, Schleifen, Hämmern. Funken sprühen und sie meinen, das sei der einzig richtige Weg. Und sie verwechseln die Funken mit bezaubernden Glühwürmchen und vielversprechenden Sternschnuppen. Dabei könnte es sein, dass es einen ganz einfachen Weg aus den Gitterstäben gibt. Vielleicht öffnen sich dann auch ihre Augen und die Schweißerbrille rutscht von der Nase – wenn sie ihn gehen. Ein Schritt nach dem anderen. Winzige Schritte. Ja, ist manchmal langweilig. Und wenn schon. Sie führen hinaus.

Der Chor. Der wartet doch nur auf ihren herzlichen Sachverstand. Auf die führende Hand, das Gesehenwerden, die passende Ausrichtung, den Einsatz, die Pausen. Wenn Sie sich vertrauen lernen, ist die schmerzlich vermisste, tragende Stimme des Urvertrauens zu verschmerzen. Dann ist es letztendlich egal, dass der Bühnenbau eine Dauerbaustelle ist und es ist dann auch nicht wichtig, ob das Publikum ihre Interpretation von Leben versteht oder nicht.“

Eine Fachkrankenschwester versucht, die gerade fehlende Stimme zu suchen und herauszulocken. Vielleicht ist es das Mitgefühl. Vielleicht die Gefährtin, der Ermutiger, die Geduld, die Zuversicht. Eine Fachkrankenschwester ist eine Art Joker. Eine Krücke für den Dirigenten, eine Sehhilfe, ein Mischpult oder eine, die ihm die Flüstertüte reicht, um den magischen Satz herauszudonnern:

Ich will den Scheiß‘ nicht mehr hören!

Ruhe

Nebenspielplätze vermeiden. Herausfinden, was ansteht. Es sich so leicht wie möglich machen. Im Hier und Jetzt bleiben. Üben. Ja, Fr. N. Es muss sein.

Damals waren es Vokabeln, heute sind es… Vain-Aha, ABC, TRE, Meditation. Sich selbst aushalten, sich selbst begrenzen, die goldene Mitte suchen und leben, Abstinenz vom „etwas Besonderes sein wollen“ (das Kind hatte das Gefühl es zu müssen, um geduldet zu werden), dem Perfektionismus, dem zwanghaften Essen und der Sucht, „die liebe Karin“ zu sein und so das Gefühl zu bekommen, daseinsberechtigt zu sein. Nein, nicht aufgeben, weil man es eh nicht schafft. Kleine Schritte, beständig wie kleine Wassertropfen. Gehen. Nicht nur Kilometer.

Was machen sie heute noch? Einen ehrlichen Blogbeitrag verfassen.

Festhalten, was sich gut anfühlt.

Einladen, zu bleiben.

Ein Satz für die Partitur.

Eine Stimme für den Chor.

Die Fachkrankenschwester.

Sei anders…

Vielleicht zeigt sich „Sei anders!“ für mich auch besonders gut im Spiegel.

Die Unerträglichkeit der eigenen Gefühle, des eigenen Selbst, zeigt sich nämlich auch in der Intoleranz bzw. Beschränktheit von Handlungsmöglichkeiten gegenüber bestimmten Mitmenschen oder Gegebenheiten.

Sei anders…

Ich hab‘ noch viel zu lernen.

Sei Anders!

 

Es war wieder so ein verzweifelter Moment am Telefon. Sie spürte das und wünschte mir, ich möge doch…

Ist es schlimm, dass ich vergessen habe, was? Nein.

Meine Freundin hatte einen lieben Wunsch für mich – und sie dachte wohl es sei „nur“ das.

Sie sprach Worte aus, aber ich bekam eine Entdeckung dazu – also ein ganz großartiges Geschenk ganz anderer Art.

Ich glaube, es gehört einiges dazu, dass ich es auspacken konnte. Was hat mir geholfen?

Zum einen fühle mich ja schon seit einiger Zeit und – noch – oft wie eine Nussschale in fremden Lebensgewässern. „Emotional gelockert“ könnte man vielleicht sagen. Dazu bin ich in Therapie, also angeleiteter Suche, sozusagen einer freundlichen Ermutigung zum Offensein.

Aber ohne die Beziehung zu ihr, meiner Freundin, wäre es mir wohl trotz allem nicht möglich gewesen. Das Vertrauen wirkt manchmal, wie in diesem besonderen Moment, wie eine emotionale Zeitlupe, ein Innehalten vor den sonst üblichen Automatismen.

Gegeben hat sie mir einen Wunsch, voller Güte, Milde und Warmherzigkeit.
In Empfang genommen habe ich aber eine dreckige Flutwelle aus Wut, Schmerz und Verzweiflung.

Anderes Bild: Vorgesummt hat sie mir eine schöne Melodie. Gehört habe ich schrecklichen Krach, durchdringenden Lärm.

Und anstatt mich innerlich gegen diese dröhnende, aus Kindertagen unerlaubte, untersagte, Gefühlsflutwelle abzuschirmen, mich mit Selbst- und Wunschentwertung abzugrenzen, konnte ich (und das ist das wunderbare Geschenk) ein klein wenig zuhören.

„Sei anders!“

Ich habe ihn entdeckt, ihn erstmalig ausmachen können. „Sei Anders!“ singt in einer Tour seinen Namen in herrischem Befehlston. Variationen wie „Du bist falsch“, „Du bist nicht richtig“, „Mit Dir stimmt was nicht“ kennt er aber auch. Er drängt sich vor, meint, er habe das Recht dazu.

Nein, nützlich ist er nicht mehr, aber ein alter, zäher Kämpfer. Er war wohl schon in den Generationen vor mir tätig und er nimmt mich, die Dirigentin, nicht wirklich ernst. Vielleicht ist er blind und taub oder er hat einfach einen Kratzer in der Platte und beginnt deshalb immer wieder von vorne?

Sei Anders.

Ich habe Dich entdeckt. Es ist Zeit für mich, Dich wahrzunehmen. Zeit für mich, die Momente Deines Luftholens zu erfassen. Mich zu fragen, warum Du singst. Für wen Du zu singen glauben musst.

Auch Du machst Pausen.