Klarheit

Gleich nach der Abendrunde machte ich mich auf den Weg. Die Wärme des Tages glühte noch nach. Man muss vom Klinikgelände nicht lange laufen, schon hat man Wald und Felder erreicht. Laufen tut mir einfach gut. Und die Gegend ist herrlich, es gefällt mir hier.

Der „Hallensport“ machte mir klar, dass ich emotional zur Zeit keineswegs belastbar bin.

Aber jedes miese Gefühl geht irgendwann vorbei. Und liebe Menschen in der Nähe zu haben, hat noch immer dabei geholfen. So auch heute.

Ich durfte deutlich spüren, dass ich alten Gefühlen, die hochquellen, mehr oder weniger hilflos ausgeliefert bin, genau so, wie zu der Zeit ihrer Entstehung.

Klarheit.

Ich bin nicht mehr die Alte. Und das ist gut so. Ich habe es so gewollt.

Zuversicht

Geld hin oder her. Ich mag die Idee von unabhängiger Zufriedenheit. Möge es mir gelingen!

Neugierde

Ich darf mich neu kennenlernen. Was mag mein Weg für mich bereithalten?

Weite

Auch wenn sich ein Platz nicht völlig richtig anfühlt, ja auch wenn er sich als falsch herausstellt, darf ich daran lernen und mich immer wieder umentscheiden.

Vertrauen

Mein Weg wird sich zeigen. Ein Schritt nach dem anderen. Mich werden wunderbare Menschen begleiten. Freunde. Und andere, neue Menschen, auf die ich treffen werde.

Milde

Es braucht seine Zeit.

Stärke

Ich schaffe das. Bis zu dem Punkt, an dem ich Hilfe brauche und finden werde.

Lernen

Grenzen wahrnehmen und respektieren. Meine und die um mich herum.

Jetzt

Darum geht es. Wieder und wieder: Jetzt.

Lieben

üben. Mit dem Herzen sehen lernen. Eine so schöne Vorstellung. Die Welt braucht solche Menschen.

Die Lehrstelle ist für mich frei.

Mattigkeit

Vernebelte Ratlosigkeit…

Ein feines, hellgraues Netz macht sich breit in meinem Erleben. Gerade ist es aber so dicht, dass ich es ausmachen kann. Es ist nicht warm, nicht kalt. Es hat was von rätselhafter Mattigkeit, ja, genau: Von leichter, feingesponnener Watte.

Es ist diese Watte der Mattigkeit, die Distanz schafft vom Schmerz.

Ich kann mich nicht richtig fühlen und das ist wohl gut so.

Früher war es auch schon so. Nur anders inszeniert…

Die Nachtschicht war vorbei. Manchmal hatte ich noch was Essbares übrig. Manchmal nicht. Manchmal fuhr ich noch in Köppern zum Bäcker oder zur Tankstelle. Es auf der Fahrt bis Wetzlar vertilgt. Ausfahrt Wetzlar Süd. Am Kreisel rechts, gleich hinter dem Leicaneubau, ist der Bäcker Moos. Kaffeestückchen. Mindestens drei. Zwei waren meist für nachmittags übrig, der Rest für die fünf Minuten Fahrt nach Hause.
Vielleicht noch schnell an den Kühlschrank, bevor ich völlig matt ins Bett falle. Der Moment, als mein Kopf das Kissen berührt, ist mir schon nicht mehr bewusst. Von ca. 7 bis 12:30 Uhr schlafen, das war schon gut. Aufstehen, Couch, Fernsehen, Handarbeiten, Essen. 16:30 Uhr war der Plan zum Nochmalschlafen, was meist nicht gelang: Aufstehen, Couch… Arbeit.
Nachtschicht. Ständig essen. Viel zu viel essen.

Tagschicht ging schon lange nicht mehr wirklich. Zu viel Stress. Außen oder innen? Egal.
Gelebte Mattigkeit. Mattsein, Betäubtsein, Funktionieren. Die Watte der Mattigkeit.

Und heute?
Kein Funktionieren. Kein endloses Essen mehr. Kein Fernseher. Keine Arbeit.

Aber die Mattigkeit ist trotzdem da. Jetzt im Moment, in dem ich darüber nachdenke, wie es für mich weitergehen soll. Welcher Platz mag der richtige für mich sein? Welchem Ratschlag soll ich folgen?

Sichtweisen von außen:

Rente beantragen – erstmal Schematherapie machen, dann weitersehen – DBT ambulant – RPK – zu Hause bleiben, Ruhe haben – nochmal nach Uffenheim oder in die Adula, Wolfsried,…

Dazu noch die Blitze von innen:

einfach wieder arbeiten gehen (Schalter umlegen, muss doch irgendwie gehen, ging doch immer, muss nur durchhalten, die erste Zeit, bis ich wieder Sicherheit gewinne…) – Anmeldung auf einer DBT Station einer psychiatrischen Klinik, irgendwo – Schematherapie ambulant, sonst erstmal nix mehr (Sommer genießen, Ruhe finden, Ebay, Entrümpeln…) – Pillen nehmen? – RPK Warstein – RPK Herford – um andere RPKs noch intensiver bemühen – Rente beantragen und weglaufen (Wanderwege) – oder doch einfach eine Lehrstelle suchen? Pack‘ ich das?

Die Mattigkeit schützt mich ähnlich wie Charlotte, die Scham. Schützt mich vor der Angst der Kleinen, der Angst vor der Einsamkeit, dem Falschsein, vor dem Fehlermachen, das mit Sterbenmüssen zu tun hat. Kein Wunder, das Ines („I.“, vernichtende Entwertung, räumt auf. Nichts hat Bestand. Alle anderen Stimmen werden zerstäubt) schonwieder im Hintergrund spürbar ist.

Was kann die Dirigentin für sich tun?

Mattigkeit, Du darfst noch ein bisschen bleiben. Ich brauche Dich wohl gerade, damit ich nicht in Panik verfalle und Ines glaubt, aufräumen zu müssen. Aber ich bin trotzdem noch handlungsfähig. Und den Rahmen will ich ausschöpfen.

Ich mache eine To Do Liste. Einem Fragenkatalog. Und versuche mich an einer ehrlichen Bestandsaufnahme über Ängste, Bedenken, Widerstände. Keine angestrebte Perfektion. Ehrliche Zufriedenheit hätte ich gerne. Ich mache es, so gut es gerade geht.

Auf geht’s. Humor, machste mit? Mit Dir ist einfach alles leichter.

Bis 16 Uhr hammer noch Zeit. Hallensport. Da brauch‘ ich Dich aber auch!!!

Warstein

Es ist Sonntag. Ich habe in der für mich gemütlichen Küche einen guten Platz gefunden. In meiner kleinen Zelle unter dem Dach hätte ich mich nicht so wohl gefühlt.

Die vielen, großen, über hundertjährigen Bäume werfen ihre Schatten auch hier hinein. Beschützen, begleiten und beruhigen mich. Ein wunderbares Gelände: Weiträumig, großzügig, an einen Park erinnernd.

Vom Fernseher des Tagesraums klingen Geräusche in meine Ohren, auf die ich gerne verzichten würde. Ein Rehabilitant hat es sich langgestreckt auf dem Sofa gemütlich gemacht und zappt. Er macht das oft: Er wird „Papa“ genannt.

Die meisten der wenigen Anwesenden sind wohl momentan auf dem Raucherbalkon zu finden, der langsam, aber sicher von der Sonne erobert wird.

An Wochenenden ist hier niemand, der dafür Lohn bekommt. Die Stimmung ist entspannt, man begegnet sich freundlich im Vorbeigehen oder beim Instantkaffeebrauen.

Heute ist der Fünfte von sieben Tagen meines Probewohnens in der hiesigen Einrichtung zur RPK („Rehabilitation Psychisch Kranker“). Hier wohnen schätzungsweise bis zu 18 Menschen über Monate zusammen. Die meisten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt, wobei die Anzahl der Männer überwiegt. Ziel ist es wohl, in einer Kombination aus medizinischer und beruflicher Rehabilitation Stabilität und Orientierung im Leben zu finden. Vielleicht das zu finden und einzuüben, um das Leben irgendwie leben zu können. Üben vielleicht, äußere Regeln einzuhalten oder innere blockierende Regelhaftigkeiten loslassen zu können.

Es kann passieren, dass man in den ersten Wochen im Zweibettzimmer untergebracht ist. Aber irgendwann darf hier jeder umziehen in einen eigenen Bereich. Sanitäranlagen aus den geschätzten frühen Siebzigerjahren befinden sich auf dem Flur.

Zu Beginn sind die Alltagsfähigkeiten im Fokus: Tagesstrukturierung und Hauswirtschaft. Nachmittags steht täglich eine Sporteinheit auf dem Programm. Kommt man in „Stufe Zwei“, kocht und hauswirtschaftet man nicht mehr gemeinsam mit den zwei wöchentlichen Probewohnern, sondern für sich alleine. Zudem steigert man in den zahlreichen Einrichtungen der Klinik (Metallwerkstatt, Gutshof mit Bioladen, Tieren, Gärtnerei) sowie in verbundenen niedergelassenen Betrieben seine tägliche Belastbareit stundenweise bis zur individuellen Grenze. Die Praktikumsstellen werden nach persönlichen Fähigkeiten mit Hilfe der beziehungsweise von den Ergotherapeuten vermittelt. Mir scheint, der Schwerpunkt liegt klar in der beruflichen Rehabilitation. Die medizinische Reha findet in einem wöchentlichen Gespräch mit dem psychologischen Dienst statt. Ebenso oft gibt es eine psychotherapeutische Gruppentherapiestunde mit offenen Gesprächsthemen, die aber nur für bis zu zwölf Teilnehmern offen steht. Ich dachte, ich würde hier intensiv DBT kennenlernen, aber das ist nicht der Fall. Die Ambulanz der Klinik bietet, in Modulen aufgegliedert, eine Skillsgruppe nach Linehan an. Momentan ist bis Oktober Urlaubspause. Eine Begleitung dieser, wenn, dann ein Mal wöchtentlich stattfindenden Gruppenstunden wird nur bei Bedarf und nach Anfrage durch die hiesigen Sozialpädagogen gewähleistet.
Die gesamte RPK Maßnahme dauert hier meistens zwischen neun Monaten und einem Jahr.

In fünf Minuten sind Lidl und Edeka zu Fuß zu erreichen. Freies WLAN gibt’s bei Mc Donalds in zwei Kilometern Entfernung.

Warstein liegt am nördlichen Rand des Sauerlandes. Gestern war ich zum Aussichtspunkt Lörmecketurm Wandern – mit Genuss. Und Motorradfahrer finden hier auch viel zum Erkurven.

Klar habe ich noch nicht viel gesehen von der Stadt. Habe sie durchquert, mal erfolglos versucht, in einer Kirche Einblick zu erhalten und in der Eisdiele gesessen, die in den wichtigsten Kategorien „Nusseis“ sowie „Cappuchino“ glatt durchfiel und zudem an der vielbefahrenen Straße liegt, die die Stadt durchquert.

Dieser breit ausgebauten, für LKW ausgelegten Hauptverkehrsader muss der Stadtkern geopfert worden sein, den ich bislang nicht ausmachen konnte. Die Läden des Örtchens sind in maximal zweistöckigen, steinigen Bauten an der Straße aufgereiht wie Stockfische im Todeskampf. Ich erlebe das kleine Städtchen als „am Tropf hängend“. Es gibt schöne Ecken und Winkel. Die, die ich gefunden habe, sind von direkter Straßen- und Fabrikszenerie umgeben.

Für Staub und Lärm sorgen neben dem Durchgangsverkehr die Kalk- und Betonwerke, die teilweise nahezu im Stadtinneren gelegen sind. Und dann gibt es noch die riesige Biermacherei, die den Namen dieses idyllischen Ortes zum Markenzeichen gewählt hat. Sie ist mit ihrem modrigen Produktionsgeruch ständig präsent und nimmt vermutlich durch ihre nicht unerheblichen Steuerabgaben ebensolchen Einfluss auf die politischen Entscheidungen.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich als Lebensstoffinfusionslösung die LWL Klinik, in der ich gerade Insassin bin und die vielen Menschen nicht nur befristeten Lebens- und Arbeitsraum gibt und somit ebenfalls zum Erhalt der Wirtschaftskraft Warsteins sorgt.

Was macht diesen Ort richtig oder falsch für mich?

Werde ich in absehbarer Zeit einen Ort finden, der sich richtig anfühlt?

Wird dieser Ort dann in absehbarer Zeit auch zu mir „Ja“ sagen?

Wird er „Ja“ sagen können – also die Rentenversicherung einverstanden sein?

Die Zeit drängt.

Was ich durch die Gespräche mit den hier Lebenden gelernt habe ist: Soziale Absicherung ist ein hohles Wort. Wenn der Fischer nicht fischen will, sondern sparen, auf andere Netze verlegen, etc. hat das Netz sehr große Löcher. Schnell ist man auch aufgrund von Wartezeiten aus der Lohnfortzahlung, dem Krankengeld, dem Arbeitslosengeld und ab in ALG 2.

Es fühlt sich trotz all den vielen Monaten in Klinken, auf Wegen immernoch so unwirklich an.

Kann ich wirklich nicht mehr die sein, die irgendwie funktioniert? Die den Schalter umlegen und einfach wieder funktionieren kann – und das auch wirklich will? Die für ein bisschen Arbeit einen Haufen Geld bekommt? Die sich um die Zukunft keine Gedanken machen muss? Die sich um Geld keine Sorgen machen muss, um nichts, was da kommen könnte?

Kann es wirklich sein, dass die Ärzte richtig liegen, dass das stimmt, was in den Entlassungsbriefen steht? Was steht da eigentlich? Wie kann ich verstehen lernen, was da steht? Und mich darin erkennen?

Passiert das alles wirklich mir?

Ist es wirklich wahr?

Was?

Welche Wahrheit hätte ich denn gerne?

Darf’s ein bisschen mehr vom Begreifen sein? Von Zuversicht und Vertrauen? Von Vision und Tatkraft? Freude und Neugier?

Ja, bitte, gerne…

Aber wie?